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Barmherzigkeit im Moskauer Frost

Stephan Hille24. Januar 2006

Am härtesten trifft die Kälte in Russland die Obdachlosen. Mindestens 80 Menschen starben bisher. In Moskau suchen sie Schutz in den Bahnhöfen. Sozialarbeiter sammeln diejenigen ein, die zu erfrieren drohen.

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Anton Koschelew kennt jeden noch so kleinen Winkel am Leningrader Bahnhof in Moskau. "Manchmal schlafen sie sogar hier", sagt der 22-Jährige und zeigt auf einen Lüftungsschacht direkt vor dem Bahnhofseingang. "Das heißt, solange die Miliz sie lässt", schränkt er ein. Koschelew ist in dieser Nacht mit drei Kollegen als kirchlicher Sozialarbeiter unterwegs. Auf der Suche nach denjenigen, denen sonst keiner mehr hilft. "Miloserdie", auf Deutsch Barmherzigkeit, steht in roten Buchstaben auf Antons blauem Overall. Im Auftrag der russisch-orthodoxen Kirche klappern sie die Moskauer Bahnhöfe und umliegende Unterführungen ab auf der Suche nach Obdachlosen, die bei diesen Temperaturen den nächsten Morgen ohne Hilfe nicht erleben würden.

Minus 20 Grad - im Durchschnitt

Halb erfrorene Menschen laden sie in ihren Bus. Für die, in denen noch ein Hauch Leben steckt, gibt es heißen Tee, eine warme Suppe oder auch ein warmes Kleidungsstück.

Noch immer sinken nachts die Temperaturen im Durchschnitt auf unter minus 20 Grad. Doch das Tückische am Moskauer Frost ist nicht die Temperatur allein: Die hohe Luftfeuchtigkeit und eine Windgeschwindigkeit von sieben Meter pro Sekunde verstärken die gefühlte Kälte auf unter minus 44 Grad. "Wer bei diesem Klima draußen liegt, dem bleibt nur wenig Zeit", sagt Koschelew und wirft einen Blick in eine dunkle Ecke einer Unterführung. "Nach einigen Minuten frieren Füße und Hände ein." Und dann – je nach körperlicher Verfassung – kann es ganz schnell gehen.

Fünf Tote pro Nacht

Jede Nacht erfrieren mindestens fünf Obdachlose. Gäbe es nicht den kirchlichen Sozialdienst "Barmherzigkeit", es wären sicher mehr. Am Ende der Unterführung sitzt ein Häuflein Mensch unter einem Berg von Decken. "Das ist Galja", sagt Koschelew im Vorübergehen und ohne das Häuflein näher zu beachten. Sie sitze jede Nacht hier und verweigere sich jeder Hilfe. "Nitschewo" – macht nichts –, sagt Anton. "Sie wird auch diese Nacht überleben. Wie, ist mir allerdings ein Rätsel."

Mitternacht am Weißrussischen Bahnhof. Vor dem Bus drängen sich Obdachlose. Frauen und Männer, die aussehen wie das Lumpenproletariat zu Beginn der Industrialisierung. Ein Fäkaliengeruch zieht durch die Tür. Alle wollen in den Bus, doch Anton Koschelew und seine Kollegen bleiben hart. Mitfahren bis zum Morgen dürfen nur diejenigen, die keine Kraft mehr haben. Im Bus erhalten sie erste Hilfe und können sich aufwärmen. Falls nötig wird ein Krankenwagen gerufen. Für die anderen armen Seelen, die nicht mitkönnen, gibt es Suppe, Brot und Tee, aber keinen Platz im warmen Bus. "Wenn wir alle mitnehmen wollten, bräuchten wir einen ganzen Zug und hätten noch immer nicht genug Platz." Noch sind erst vier von 17 Plätzen besetzt. Drei Frauen und ein Mann schlafen im Bus ihren Rausch aus. Doch die Nacht ist noch lang, und die Lebensretter in Gottes Namen haben noch vier Bahnhöfe vor sich. In diesen extremen Frosttagen stoßen sie auf ihren Kontrollgängen auf weniger schwere Fälle als üblich.

Vertreibungen wieder ab minus 10 Grad

"Viele Obdachlose suchen und finden irgendwo einen halbwegs geschützten Platz", erklärt Koschelew. Zu Beginn der Frostwelle hat Bürgermeister Luschkow die Miliz angewiesen, die Obdachlosen nicht – wie sonst üblich – aus den Bahnhöfen zu jagen. Allein in der Halle des Kursker Bahnhofs campieren in diesen Nächten hunderte. Noch lässt die Miliz sie in Ruhe, doch sobald die Temperaturen wieder auf minus zehn Grad steigen, wird die Miliz

sie verjagen.