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Barroso - Mann ohne Eigenschaften

Alexander Kudascheff, Brüssel17. August 2005

Nach zwölf Monaten im Amt hat EU-Präsident Barroso wahrlich kein Glanzjahr hingelegt. Zu zurückhaltend würden er und seine Kommission agieren, lautet der Vorwurf. Das ist aber durchaus gewollt.

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Alexander Kudascheff

Das ist in Brüssel weitgehend unumstritten: José Manuel Barroso ist ein unscheinbarer Präsident. Er drängt sich nicht in den Vordergrund. Er macht keinen medialen Trommelwirbel. Er kündigt nicht jeden Tag eine neue Initiative, eine neue Richtlinie, eine neue Idee der europäischen Kommission an. Und er spricht - ganz im Gegensatz zu seinem glücklosen Vorgänger Romano Prodi - exzellent Französisch und Englisch. Und doch. Barroso, der nun ein Jahr im Amt ist, wirkt wie ein Mann ohne Eigenschaften, ohne eigenen politischen Charakter, ohne Profil, ohne Konturen.

Präsident 2. Klasse

Er wirkt blass, gelegentlich überfordert, glücklos, ein Mann des Schattens - und damit ist er - und auch das ist weitgehend in Brüssel unumstritten - kein Mann, der die Kommission, die europäischen Institutionen, die europäische Idee feurig nach vorne peitscht. Ein Mann der zweiten Wahl, so scheint es, ein Kommissionspräsident der 2. Klasse, so wirkt es. Dem der missglückte Start bei der Bestellung seiner Kommission immer noch nachhängt.

Nicht alles in Brüssel regeln

Und das ist alles sicher richtig. Das erste Jahr Barroso ist kein Jahr der politischen Glanzlichter. Es ist ein Jahr der bescheidenen politischen Bilanz der Kommission, von der wenig zu berichten bleibt. Andererseits: die Zurückhaltung Barrosos ist Programm. Er - und seine 24 Mitkommissare - sind ja angetreten, Europa von den Sternen der Visionäre wieder auf den Boden zurückholen. Ihr Programm lautet: so viel Europa wie nötig, aber nicht wie möglich. Ihr Credo lautet: was in den Mitgliedsstaaten getan werden kann, sollte dort auch getan werden. Und Brüssel soll nicht mehr das Synonym für den alles regulierenden Moloch der europäischen Bürokratie sein.

Die Zurückhaltung, die scheinbare Tatenlosigkeit, das fehlende Feuerwerk der Ideen und Initiativen - das alles ist auch ein Zurückführen der Kommission auf eine neue eher bescheidene Rolle. Brüssel mischt sich nicht mehr in alles ein. Und es prüft zuerst, ob eine europäische Regelung vernünftig ist - und nicht danach, wenn der Protest laut wird. In diesem Sinn ist Barrosos erste Bilanz nicht mehr so schlecht. Denn auch in Brüssel hat man erkannt: es muss nicht alles hier geregelt werden.

Europa in der Bewusstseinskrise

Andererseits ist die Kritik an Barroso trotzdem symptomatisch. Denn Europa steckt in der Krise. In einer Struktur- und in einer Bewusstseinskrise. Offensichtlich ist das beim zweifachen Nein zur europäischen Verfassung geworden. Niederländer und Franzosen - beide eher europafreundlich, beide Gründungsmitglieder der EWG - haben sich gegen ein visionäres Projekt eines Europa von oben gestemmt. Und die Scherben müssen jetzt aufgelesen werden. Und die erste Schlussfolgerung kann nur lauten: Europa kann nicht gegen die Menschen von oben herab mit patriarchalischer Geste verordnet werden. Europa muss wachsen. Die Verordnungen, Richtlinien, Maßnahmen, die zur gewünschten Harmonisierung des europäischen Lebens führen sollen, müssen das Zusammenleben erleichtern - aber nicht nivellieren. Die EU erlebt in dieser Krise, dass sie sich neu ordnen muss. Und das heißt: von unten neu zusammenwachsen.

Wie viel Europa für die Europäer?

Und erst da wird auch der Streit, die Grundsatzdebatte über den zukünftigen europäischen Haushalt sinnvoll. Es ist kein Streit über europäische Solidarität oder gar das (eigentlich inexistente) europäische Sozialmodell, wie so mancher - auch Regierungschef - gesagt hat. Es ist ein Streit über nur eine Frage: wie viel Europa wollen die Europäer?

So viel wie es sich Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker wünscht, so viel wie Frankreichs Jacques Chirac erwartet oder so viel wie Großbritanniens Premier Tony Blair sich vorstellt. Barroso ist wohl näher bei Blair als bei Chirac oder Juncker. Und so bleibt die europäische Kommission unter seiner Führung im Hintergrund. Zu sehr im Hintergrund für den Geschmack vieler Europa-Enthusiasten, die glauben, Barroso unterminiere die großartige europäische Idee. Gerade richtig für die britischen, tschechischen, baltischen Realisten, die den Brüsseler Moloch fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Und dazwischen laviert Barroso und seine Kommission - je nach Geschmack blass oder vernünftigerweise zurückhaltend.