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Wandel der Geschmäcker

21. April 2010

Grau und hässlich - so wird die deutsche Nachkriegsarchitektur oft beschrieben. Aber vorsicht: Unser gemeinschaftlicher Geschmack ändert sich stetig. Mit dem Abreißen sollte man daher vorsichtig sein.

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Graues Hochhaus von 1963 mit schlichter Fensterfront. (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Hochhaus aus den 60er JahrenBild: DW/Nadine Wojcik

Auf dem Kurfürstendamm in Berlin springt es dem ahnungslosen Spaziergänger förmlich entgegen: ein zehnstöckiges Hochhaus samt Geschäftsgebäude und Ladenflächen. Nur ein paar Hausnummern weiter erstrahlt ein picobello saniertes Gebäude der Gründerzeit, strotzend vor Stuck und Verzierungen. Architekturhistoriker Roman Hillmann bleibt dennoch fasziniert vor der grauen Kombination der 1960er Jahre stehen. "Diese ungewöhnliche Fassade - so etwas gibt es in Deutschland nur sehr selten." Er zeigt auf die Schiebefenster des Hochhauses. "Das ist ein ganz ausgeklügeltes System, auf diese Weise steht nie ein Fenster aus dem Haus heraus und somit bleibt der stringente Eindruck des Gebäudes immer bestehen."

Schaut genau hin!

Gebäudekomplex aus den 1960ern mit zehngeschössigen Hochhaus, Geschäftsgebäude und Ladenflächen. (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Denkmalwürdig?Bild: DW/Nadine Wojcik

"Denkmalwürdig" attestiert der studierte Archäologe und promovierte Architekturhistoriker dem Gebäudeensemble, das derzeit eher trostlos anmutet: In der linken Ecke harren ein Sonnenstudio und ein Currywurst-Imbiss aus, in der rechten eine Parfümerie. Der Rest ist leergeräumt, wartet auf die fällige Sanierung. An dem Hochhaus hängt ein rund fünf Meter langes Banner. "News" ist darauf zu lesen, sowie "11.400 Quadratmeter Office, Shops von 150 bis 1000 Quadratmetern, Fertigstellung Herbst 2011". Die Modellzeichnung daneben glitzert erwartungsvoll.

Roman Hillmann ist wenig begeistert. Er fürchtet um die einzigartigen Fenster, die für ihn Sinnbild der Nachkriegsmoderne sind. "Aus meiner Sicht ist es absolut notwendig diese Fenster zu erhalten. Sie haben dieses schmale Profil, das an sich schon ein Wunder ist und das in der Form auch gar nicht mehr hergestellt wird. Und zweitens haben sie einen technikgeschichtlichen Wert, das heißt, sie sagen uns etwas darüber, wie früher Fensterfronten gebaut wurden." Die Antwort der Bauherren darauf scheint man zu kennen: zu aufwendig, zu teuer, viel zu unmodern. Würden sie dem Architekturhistoriker Hillmann länger zuhören, wären sie vielleicht einsichtiger. "Eine Sanierung ist immer billiger als ein Neubau", sagt Hillmann, der in den letzten Jahren viele Firmen kennengelernt hat, die sich auf die Sanierung von Gebäuden der 1950er und 1960er Jahre spezialisiert haben.

Nahaufnahme der Fensterfrontfassade eines Hochhause von 1963 mit Schiebefenster. (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Raffinierte Fensterfassade - bleibt sie erhalten oder wird sie kaputt saniert?Bild: DW/Nadine Wojcik

Endlich Platz!

Außerdem habe die Nachkriegsmoderne das Stadtbild gar nicht zerstört, wie es ihr häufig vorgeworfen werde. Vielmehr habe sie endlich Platz geschaffen in den viel zu engen Innenstädten, sagt Roman Hillmann. "Die Architekten waren nach dem Krieg die ersten, die mit dem Schock der zerstörten Städte konstruktiv umgehen mussten." Den Fehler der zu eng bebauten Innenstädte wollten sie beim Wiederaufbau nicht wiederholen und schafften mit ihren neuen Entwürfen vor allem eins: Platz.

Saniertes Hardenberghaus, ein Geschäftshaus aus den 60er Jahren in Berlin Charlottenburg in der Nähe des Ernst-Reuter-Platzes. (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Charlottenburg: ein Beispiel für gelungene SanierungBild: DW/Nadine Wojcik

Dieser zurückgewonnene Freiraum steht heute jedoch wieder auf dem Spiel. "Nach dem Krieg wurde hier auf dem Kurfürstendamm ein kleiner Platz geschaffen, ganz in Anlehnung an den gegenüberliegenden Platz aus der Gründerzeit. Alte Strukturen wurden also ganz besonders berücksichtigt und sogar wieder aufgegriffen." Hillmann zeigt auf die Skizze mit der Simulation für den fertig modernisierten Gebäudekomplex. "Dieser Platz wird verloren gehen – mehr noch: die neue Fassade ragt sogar noch weiter auf den Bürgersteig als die Front der nebenstehenden Gründerzeit-Bauten."

Investoren versus Denkmalpfleger

Es ist ein Tauziehen zwischen Investoren und Denkmalpflegern. Und ein Abwägen zwischen kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen und langfristiger kultureller Verantwortung. Denkmalpflege ist in Deutschland unterschiedlich geregelt. In manchen Bundesländern untersteht sie dem Kulturministerium, in Berlin jedoch dem Bausenat und genau das hält Roman Hillmann für problematisch. "Wenn die Wirtschaft in Berlin investieren will, wird sie willkommen geheißen. Wenn aber der Denkmalschutz kommt und sagt, wir haben eine Verantwortung, dann heißt es: sicherlich, aber vielleicht später, nicht jetzt." Zudem gäbe es personelle Probleme, da Stellen in den letzten Jahren massiv eingestrichen worden seien. "Manche Denkmalämter sind faktisch gar nicht mehr existent."

Heute pfui, morgen schick

Nachkriegsarchitektur am Kurfürstendamm, Gebäudekomplex 195 vor der Sanierung, 1963 gebaut nach Plänen von Architekt Erich Roth. Foto: Nadine Wojcik
Architektur der GründerzeitBild: DW/Nadine Wojcik

Dabei wäre die Lösung ganz einfach, würden die Investoren und Bauherren nur eins erkennen: was heute pfui ist, kann schon morgen schick sein. Hillmann verweist auf die Architektur der Gründerzeit. "Noch vor 40 Jahren wurden die Gebäude vereinfacht, der Stuck abgeschlagen. Heute würde man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn man so etwas machen würde."

Er sieht sich daher auch nicht als Hellseher, sondern weiß einfach darum, dass sich das ästhetische Empfinden stetig wandelt. "Ich bin mir sehr sicher: In 20 Jahren werden die Gebäude der 50er und 60er Jahre als Schmückstück der Architektur gelten."

Autorin: Nadine Wojcik

Redaktion: Petra Lambeck