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Begegnungen: Daniel Kehlmann in Russland

Ramón García-Ziemsen2. September 2006

Eine Goethe-Reise vor zwei Jahren führte ihn zuerst nach Moskau und dann nach Sibirien. Und dort durfte er Weite erleben, maßlose Weite ...

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Der Schriftsteller Daniel Kehlmann (31)Bild: PA/dpa

Man ist zunächst einmal völlig geblendet und erschlagen ... Also, wenn einem klar wird, dass man dort in Sibirien ... schon weiter weg ist von Moskau als wir jetzt von Moskau weg sind, dann werden einem diese Dimensionen erst klar. Diese ungeheure Weite des leeren, unbesiedelten, sich selbst überlassenen Raumes. Das ist ein ungeheures Erlebnis. (…)

Von den Alltagsbildern hat man immer eine gewisse Angst vor Russland, ... hat von Russland auch immer die Vorstellung von einem Land, in dem ganz katastrophales passiert ist und gleichzeitig von den heutigen Medien her hat man ein Bild, dass das Leben dort eben sehr unsicher und gefährlich und womöglich auch düster und irgendwie entbehrungsreich ist. ... Man fährt da nicht ohne gewisse Scheu und Vorsicht hin.

Aber gefahren ist er, Daniel Kehlmann. Deutsche Kultur in allen Facetten - Hunderte Veranstaltungen von Sankt Petersburg bis Novosibirsk. Pina Bauschs Tanztheater, das Berliner Rundfunkorchester - und junge deutsche Literatur.

Im Rahmen der Aktion wurden da auch einige deutsche Autoren eingeladen, zu so einer, wie Burkard Spinnen das mal genannt hat, Schriftstellerlandverschickung ....

... um zunächst in Moskau und dann in einigen sibirischen Städten vorzulesen. Das war im deutsch-russischen Kulturjahr 2004.

Wer Bücher liebt, kann nicht leben ohne russische Literatur

Jetzt sitzt Daniel Kehlmann in Wien, in seiner kleiner Wohnung im Zentrum, die etwas von einer Studentenbude hat: An der Wand ein billiger Druck von Don Quichote, der schon bei seinem Einzug dort hing, auf dem Schreibtisch ein großes Durcheinander, auf dem Boden Bücher und Zettel - alles in allem: wohltemperiertes Chaos. Aber nein, so sehe es nicht immer aus, eigentlich sei er ein ordentlicher Mensch, doch er ziehe gerade um, in eine größere Wohnung, im selben Haus. Er blickt auf die Uhr: Bis halb sechs haben wir, sagt er beinahe entschuldigend. Und so erzählt er lieber schnell von seiner "Verschickung“, die er trotz seiner anfänglichen "Scheu“ genossen hat.

Bei den Lesungen in Russland habe ich immer die Erfahrung gemacht, dass ein unglaublich gutes, interessiertes, belesenes Publikum auftaucht. Das zu einem ganz großen Teil die Bücher wirklich kennt, die man vorliest und kluge Fragen stellt. Das beeindruckt einen Schriftsteller natürlich auch, man merkt auch, dass ein Autor dort von der Kultur her mehr gilt als bei uns. Es schlägt einem eine gewisse Verehrung entgegen, überall, wenn gesagt wird, dass man Schriftsteller ist - die mit einem selbst sehr wenig zu tun hat. Die wirklich damit zu tun hat, dass in der russischen Kultur der Autor und seine Position, eine viel pathetisch aufgeladenere ist. Das ist sicher auch ein Grund, warum man als Schriftsteller gerne hinkommt. Obwohl es natürlich nur ein Vergnügen für die Eitelkeit ist. Irgendwie macht's einem dann schon Spaß, einmal behandelt zu werden wie die großen Schriftsteller im 19. Jahrhundert behandelt wurden.

Wer Bücher liebe, könne ja überhaupt nicht lesen und leben - er sagt wirklich leben - ohne sich mit der russischen Literatur zu beschäftigen.

... für mich war das Bild von Russland sehr stark geprägt durch die zwei Pole, die die Literatur vorgibt: Auf der einen Seite Tolstoi, mit Fuchs und Wolfsjagden und unendlich schneebedeckten Ebenen und Schlittenfahrten, Residenzen, in denen glitzernde Bälle stattfinden. Und auf der anderen Seite das Dostojewski-Bild: Hysterische, tiefsinnige, ständig philosophisch befasste Menschen, die einander bei jeder Gelegenheit um den Hals fallen oder umbringen, einander zum Duell fordern und die kein Gespräch führen können, ohne sehr bald bei Gott und den letzten Dingen zu landen.

Ana Karenina ist unübertrefflich

Er zitiert dann den berühmten Literaturwissenschaftler George Steiner, der die These vertritt, dass sich jeder irgendwann zwischen Tolstoi oder Dostojewski entscheidet. Kehlmanns Entscheidung ist längst gefallen.

Tolstoi. Ich denke, Dostojewski ist einer der größten Schriftsteller aller Zeiten, aber seine Romane haben erstaunliche Fehler und Längen, Durchhänger ... Während Tolstoi Romane schreibt, die einfach perfekt sind - als Romane. Ana Karenina ist unübertrefflich. Also Faulkner wurde mal gefragt: Die drei besten Romane aller Zeiten - und er sagte: 'Ana Karenina, Ana Karenina und Ana Karenina.'

Die russische Literatur, der Alltag in Omsk. Sprachlosigkeit, einer von einer Handvoll Menschen in einer Millionenstadt sein, die sich nicht verständigen können. Zurückgeworfen in den Zustand des Analphabeten ...

.... weil man selbst die einfachsten Schilder nicht lesen kann. Das ist wirklich eine existentielle Erfahrung, die wiederum sehr interessant ist. Weil, wann hat man die schon noch mal, dass man wirklich plötzlich noch mal in der Lage eines verirrten Kindes ist. Während man in Moskau immer jemanden findet, der einem hilft. In Sibirien ist das nicht so. Dort hat es wirklich etwas existentiell Schreckliches zu wissen, nicht nur, die Leute können die Sprache nicht, sondern sie kennen das Phänomen nicht, dass man dort ist aber nicht russisch spricht. Russisch ist das, was man spricht. Wieso spricht man nicht russisch?

Da fühlt man sich dann schon ein wenig, wie soll man sagen allein (lacht!), also man denkt sich immer, wenn ich jetzt ein Problem hätte, welcher Art auch immer und nicht die netten Leute von der Goethe-Instituts-Kontaktstelle sich um nicht kümmern würden - dann könnte es jetzt sehr unangenehm werden.

Die Angst, ein Tourist zu sein

Wird es aber nicht. Ganz im Gegenteil. Daniel Kehlmann spricht von Freundschaften, die er geschlossen hat, davon, dass er wieder nach Sibirien will. Und erklärt dann einige Reise-Grundregeln, die vor allem wir Deutsche uns auf die Fahnen schreiben sollten ...

Das wichtigste finde ich, ruhig bleiben. Keine Panik. Die meisten reisen ja irgendwo hin und sind nur ergriffen von der Panik, dass sie sich nicht wie Touristen verhalten wollen. Sie wollen nicht aussehen wie Touristen, sie wollen nicht herumgehen wie Touristen, sie wollen nicht denken wie Touristen.

Aber sie sind es.

Es ist die Horrorvorstellung. Aber so schlimm ist das doch nicht. Wenn ich an einen Ort komme, an dem ich noch nicht gewesen bin, dann will ich erst mal die berühmten Sehenswürdigkeiten sehen. Ich will die sehen und dann mach ich sogar manchmal Photos von ihnen und wenn ich dabei aussehe wie ein Tourist, dann finde ich das nicht so schlimm, weil letztlich bin ich es ja auch in dem Moment. ... Wichtig ist, mit Menschen zu sprechen, neugierig zu sein, sich was erzählen zu lassen und zuzuhören. Ich finde es ganz wichtig, dass man eine gewisse Ruhe behält gegenüber dieser Angst ein Tourist zu sein.

Auch, wenn man dann mal in ein Restaurant geht und ...

... kriegt die Karte auf englisch, ... nicht sofort erschrecken, nicht sofort weglaufen, gut, dann kommen dann vielleicht einige Ausländer, vielleicht sogar Touristen - ist auch nicht so schlimm. Man lernt trotzdem ein Land kennen.

Distanzen lösen sich in abstrakte Mathematik auf

Aber Daniel Kehlmann lernt Russland, lernt Sibirien nicht nur kulinarisch kennen. Er sei überrascht gewesen, mehr noch - es habe ihn geradezu schockiert, zu sehen, wie viele belesene, literarisch interessierte Menschen er getroffen hat ...

... Literaturwissenschaftler an den Unis, die normalerweise ein vollkommen akzentfreies Deutsch sprechen. Und wenn man sie fragt, wo sie es herhaben, dann sagen sie: Das ist doch mein Beruf. Menschen die .... so eine Bereicherung wären für viele Gespräche, für viele Diskussionen hier und die keine Chance haben, nicht nur hier zu arbeiten sondern herzukommen, weil man sie ja nicht reinlässt, weil sie immer ein Stipendium brauchen oder irgendwie großen bürokratischen Aufwand. ... Zu wissen, dass all diese großartigen Leute dort sind und von uns in dieser Weise durch im Grunde einen, diesmal von unserer Seite aufgebauten, eisernen Vorhang getrennt sind, das macht einen schon manchmal traurig.

Und dann kommt sie; meine Frage, die Schriftsteller manchmal gar nicht gerne hören, weil sie ihnen zu konkret, zu banal klingt. Als wäre ein Schriftsteller nichts anderes als eine ständig eingeschaltete Dokumentier-Maschine - eine Tafel, in die die Wirklichkeit ihre Geschichten eingraviert. Aber Daniel Kehlmann hat sie schon erwartet: Hat die Sibirienerfahrung Eingang in seine Arbeit als Schriftsteller gefunden?

Also es hat sich tatsächlich übersetzt - ich lass ja Humboldt am Ende der Vermessung der Welt auch nach Sibirien fahren. Und diese Reise ist ganz wichtig für mein Buch, Humboldt im Stadium des Nachlassens und des Alterns zu zeigen. Ich war nun nicht überall, wo Humboldt gewesen ist, ich habe das auch früh für mich entschieden, dass ich diese Buch schreibe, ohne Humboldts Route im einzelnen nachzuvollziehen, aber gleichzeitig ein bisschen wissen, wie es dort ungefähr so aussieht, das musste ich schon. Und dass ich an einigen wenigen Orten dieser riesigen sibirischen Reise auch gewesen bin, hat mir ein gewisses Zutrauen gegeben, dass ich das wirklich schildern kann.

Die Endlosigkeit, das Gefühl für Nähe und Distanz zu verlieren. In der Vermessung der Welt heißt es, das Land sei "so unsinnig groß, dass Entfernungen keine Bedeutung hätten. Distanzen lösten sich in abstrakte Mathematik auf.“

Verbunden auch mit dieser ständigen Zeitumstellung, weil man ja von Zeitzone zu Zeitzone reist. Und eben auch das Erlebnis hat, dass die Sonne sehr früh auf und sehr spät untergeht. Und das eben mit dem Erlebnis, dass man ständig die Uhr umgestellt hat, nach jeder Station, man fühlte sich da völlig aus der Zeit gefallen, wie in einem nicht enden wollenden, ständig hellen Tag.

Aus der Zeit sind auch wir gefallen. Daniel Kehlmann blickt auf die Uhr. Er wird sich bei seinem nächsten Termin verspäten. Mir hat das ein paar Fragen mehr ermöglicht: Seine Uhr ist stehen geblieben.