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Begegnungen

Lina Hoffmann30. September 2006

Vor ihrer ersten Reise nach Marokko hatte Ulrike Draesner noch Bilder aus "Tausend und einer Nacht“ im Kopf. Die Realität sah dann ganz anders aus.

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Ulrike Draesner (44)Bild: dpa

"Ich hatte Erinnerungen an Marokko, als 15jähriges Mädchen, da war ich allerdings in dem Familienschutz dort. Lange blonde Haare, fand ich toll damals. Ja. Konnte viel scherzen. Mein Vater sollte mich mit Kamelen tauschen, was man mit Touristen eben so tut. In Ordnung. Danach schrieben zwei Marokkaner jahrelang unglaubliche Liebesbriefe und das war so mein Bild von Marokko: Und ich dachte, 'na gut, du fährst jetzt als ältere Frau dahin' und ich hatte eigentlich keine Angst."

Das war es, was Ulrike Draesner erwartete. 2005 fuhr sie hin. Von Berlin aus, wo sie jetzt lebt. Ihr Gesicht leuchtet, wenn sie erzählt und sie strahlt viel Selbstbewusstsein aus. Es hat sie viel Mut gekostet, die Stelle als wissenschaftliche Assistentin an der Universität München aufzugeben, um freie Autorin zu werden.

Problematische Erfahrung

Die Welt empfindet sie als reich und vielfältig, als spannend und als unterschiedlich von Land zu Land. Auf Einladung des Goethe Instituts fährt sie im Jahr 2000, dem indisch-deutschen Kulturjahr, nach Indien. Der Subkontinent hatte sie schon als Studentin sehr beeindruckt. Marokko sollte für Ulrike Draesner eine viel problematischere Erfahrung werden.
Sie merkt wie der fremde, unbekannte Raum, die Landschaft sie selbst und ihre Wahrnehmung verändern. Das wirkt sich auf ihr Schreiben aus.

"Ich fuhr als Autorin hin und fing an in diesem Sinne mich zu öffnen und das was ich wahrnehme, wenn es sich ergibt und dort ergab es sich, auch in Gedichten es aufzunehmen. Diese Gedichte haben dann, und das merke ich deutlicher, wenn ich wieder zu Hause bin, die haben dann einen eigenen Ton. Manchmal kommen sie mir richtig fremd vor. Ich weiß, es ist nicht nur thematisch eingewandert was ich dort gesehen habe, sondern auch durch diese Anwesenheit in diesem anderen Raum, werde ich auch jemanden anders. Diese Teile und diese Sprachanteile kommen hervor.“

Spannungen innerhalb der Gesellschaft

Freilich ist die Verständigung schwierig. Arabisch beherrscht sie nicht und auch ihre französischen Sprachkenntnisse sind begrenzt. Und so ergibt sich eine merkwürdige, stumme Kommunikation mithilfe von Gesten, Beobachten und Hören. Eine Kommunikation, die ein seltsames Schweben hervorbringt, etwas Vages, das das konkrete Verstehen erschwert. Gestik und Körpersprache der Menschen in Marokko sind schwierig zu durchschauen. Ulrike Draesner fühlt sich allein, wenn sie unterwegs ist. Die verschiedenen Stationen und Lesungen bei den Deutschen Kultur-Instituten haben ihr Brücken gebaut.

Marokko scheint ihr anders, fremder, schwerer verständlich als die übrigen islamischen Länder, die sie bis jetzt besucht hatte. In Malaysia und in Indien hatte sie Spannungen lediglich zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgruppen beobachtet, in Marokko scheinen ihr die Konflikte tiefer zu liegen, sie begegnet Spannungen innerhalb der islamischen Gesellschaft und sie erlebt eine fremde Kultur:

"Es war Februar, als ich da war und ich war äußerst ordentlich angezogen, schon wegen der Kälte. Man konnte nur meine Hände und mein Gesicht sehen. Es ist aber in der Fußgängerzone von Casablanca, wo ich oft rumgehen musste, denn auf der einen Seite gab es das Hotel, auf der anderen das Goethe Institut, es ist immer wieder passiert, dass Männer auf mich zukamen, null auswichen und als ich auswich, mir nachkamen und mir den Ellenbogen in die Rippen gerammt haben oder mir auf den Fuß getreten sind, mit voller Absicht."

Spontane Aufnahme im Atlas

Ein Verhalten, das sie ratlos macht, irritiert. Ihre Kontakte in diese Gesellschaft sind begrenzt. Auch mit Frauen besteht nur eine eingeschränkte Kommunikation. Die Beziehung zu ihrem marokkanischen Kollegen, der sie betreut, gestaltet sich schwierig.

"Ich hatte den Eindruck, dass die Beziehungen extrem hierarchisch organisiert sind in Marokko. Wer darf aus welchen Gründen wo was sagen und spielt welche Rolle."

Ihre eindrucksvollste Erinnerung ist die Fahrt zu einem abgelegenen kleinen Dorf im hohen Atlas, ein Dorf ohne Elektrizität und jegliche Kommunikationsmöglichkeiten zur Außenwelt, wo sie mit ihrem Austauschpartner hingefahren war. Hier begegnet sie ganz einfachen Leuten, die sie spontan aufnehmen und einladen. Der Tagesablauf ist völlig ungewohnt, ganz elementar, das Essen einfach, die Temperaturen tagsüber warm, nachts eiskalt.

Unsichtbar bleiben

Eine marokkanische Lehrerin bringt ihr schließlich das Land näher, erzählt vom Generationenkonflikt, von den Alten, die bleiben, den Mittleren, die weggegangen und wiedergekommen sind, den Jungen, die auswandern und nicht zurückschauen wollen. Diese Lehrerin lädt Ulrike Draesner in ihre Schule ein:

"Das war eine sehr schöne Situation. In einer Schule in Rabat haben wir gemeinsam gelesen und es gab diese marokkanischen Kinder, die sich vorbereitet hatten. Wir haben versucht auf Französisch zu kommunizieren. Die waren unglaublich begeistert offen und lebendig. Das war großartig. Was ganz anderes, als auf der Straßen zu beobachten war. Genauso übrigens die Berberkinder da im hohen Atlas, auf den Dörfern. Da ist es zu Kontakten gekommen, aber ohne Sprache."

Ulrike Draesner hat Marokko als ein Land der Gegensätze empfunden, ein Land auch, das sich und seine Konflikte lieber verbirgt, ein Land mit abgeschiedenen Bergdörfern einerseits und mit moderner Technologie andererseits - Internet und Satellitenfernsehen. Die "Schüsseln" erinnern die Schriftstellerin an Sindbads weißes Ohr. Aber, so schreibt sie: "die Satellitenschüssel zeigt zwar an, dass man selbst einen Blick nach draußen werfen möchte, aber eben weiterhin unter der Bedingung der eigenen Unsichtbarkeit“.