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"Flagge zeigen"

Roman Goncharenko15. Juni 2012

EU-Parlamentarier Werner Schulz hat das getan, was viele in Deutschland gefordert haben: Er kam zur EM in der Ukraine und besuchte die inhaftierte Julia Timoschenko. Ein Interview mit dem Grünen-Politiker.

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Europaparlamentarier demonstrieren in Charkiw
Bild: Reuters

DW: Herr Schulz, Sie und ihre Kollegin vom EU-Parlament, Rebecca Harms, haben beim Spiel Deutschland-Niederlande in Charkiw (13.06.2012) im Stadion ein Banner ausgebreitet, auf dem Sie Freiheit für politische Gefangene in der Ukraine gefordert haben. Wie hat man darauf reagiert?

Werner Schulz: Ich kann nur die Reaktionen auf der Ehrentribüne einschätzen. Da war überwiegend freudiges Interesse, zustimmendes Nicken und nur vereinzelter Protest. Allerdings saß hinter uns der Assistent des Charkiwer Bürgermeisters. Er reagierte empört und war der Meinung, das hätte nichts mit Sport zu tun. Wir haben ihn darüber aufgeklärt, dass Sport und Politik keine getrennten Welten sind, dass die Vergabe der EM an die Ukraine eine sehr politische Entscheidung war.

Sie waren die ersten europäischen Politiker, die Julia Timoschenko während der Fußball-EM im Krankenhaus besucht haben. Worüber haben Sie und Rebecca Harms mit der inhaftierten Ex-Premierministerin gesprochen?

Wir haben ein sehr ausführliches Gespräch geführt - zweieinhalb Stunden etwa. Sie macht sich große Sorgen um die Mitgefangenen. Es ist ja nicht so, dass nur Julia Timoschenko im Gefängnis sitzt, das ist nur die Spitze der Ungerechtigkeit. Es ist ein Rachefeldzug gegen die Kräfte der Orangenen Revolution, den Präsident Viktor Janukowitsch mit Hilfe der Staatsanwaltschaft führt. Sie macht sich vor allem Sorgen, dass die Ukraine vom demokratischen Weg abkommt und in eine Despotie oder eine Art Monarchie abdriftet.

Pressekonferenz der Europaabgeordneten Harms und Schulz nach ihrem Besuch bei Timoschenko (Foto: REUTERS)
Pressekonferenz der Europaabgeordneten Rebecca Harms und Werner Schulz nach ihrem Besuch bei TimoschenkoBild: Reuters

Hat sich Frau Timoschenko für Sanktionen gegen die Ukraine seitens der Europäischen Union ausgesprochen?

Sie hat gesagt, wir sollten uns doch auch mal die Geschäftsbeziehungen des Präsidenten anschauen, weil es dort weniger um Politik, als um Geld, um Bereicherung geht. Und dass man sich auch die Konten, die da im Ausland lanciert worden sind, genauer anschauen sollte. Sie hält nichts von Sanktionen gegen ihr Land.

Frau Timoschenko ist seit Monaten krank und wird von deutschen Ärzten behandelt. Wie geht es ihr jetzt?

Den Umständen entsprechend ganz gut. Ich glaube, sie hat sich einigermaßen erholt von dem Hungerstreik. Sie ist sehr tapfer und hält die Therapie ein, die die deutschen Ärzte ihr vorgeschlagen haben. Man kann aber unter Gefangenschaftsbedingungen nicht gesund werden. Schlimm ist vor allem der Psychoterror. Sie wird ja rund um die Uhr bewacht – über Kameras und durch ein Aufgebot von Sicherheitsbeamten. Noch dazu hat sie nach wie vor Angst vor den ukrainischen Ärzten. Sie traut ihnen nicht. Sie lässt sich kein Blut von ihnen abnehmen oder Injektionen verpassen. Sie sagt, der ehemalige Innenminister Jurij Luzenko habe eine mysteriöse Hepatitiserkrankung im Gefängnis bekommen. In der Ukraine gibt es offenbar skrupellose Methoden, die politische Opposition auszuschalten.

In den letzten Wochen hatte man den Eindruck, dass sich der Westen und vor allem Deutschland mehr für Julia Timoschenko einsetzt als die meisten Ukrainer. Wundert Sie das?

In der Ukraine ist eine große Enttäuschung eingetreten, eine Apathie in einer gewissen Weise. Man hat sich mehr versprochen von den Kräften der Orangenen Revolution. Es ist natürlich sehr schlimm, wenn diese hohen Erwartungen enttäuscht worden sind. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass hier eine große Ungerechtigkeit besteht und man in der Ukraine noch nicht gelernt hat, wie Demokratie funktioniert.

Sie haben auch den ukrainischen Ministerpräsidenten Mykola Asarow getroffen. Worum ging es bei diesem Gespräch?

Es ging nach meinem Eindruck darum, dass er irgendwie aus dieser Sackgasse heraus möchte. Man hatte den Eindruck, er steht schon mit dem Rücken an der Wand. Allmählich wird es einigen Leuten klar, dass sie großen Schaden angerichtet haben mit diesen politischen Prozessen und so das Image ihres Landes ramponieren. Andererseits rücken sie natürlich nicht von ihren Positionen ab. Sie bringen Details über Details, warum diese Leute schuldig sein sollen. Aber das Ganze wirkt unglaublich grotesk und absurd. Man hat praktisch die Regierungstätigkeit von Timoschenko genauestens unter die Lupe genommen. Und nichts gefunden. Jetzt versucht man ihr sogar einen Auftragsmordmord in die Schuhe zu schieben. Ich finde, das ist eine unglaubliche Rufmordkampagne.

Werden Julia Timoschenko und andere ehemalige Minister ihrer Regierung bald frei kommen?

Ich hoffe das sehr. Ich glaube, wir dürfen hier in der Europäischen Union nicht nachlassen. Wir müssen da ganz klar Flagge zeigen und deutlich machen, solange diese Menschen nicht frei und rehabilitiert sind, werden wir die bevorstehende Parlamentswahl (im Oktober – Red.) nicht anerkennen können. Es kann keine faire Wahl sein, wenn wichtige Vertreter der Opposition im Gefängnis sitzen.

Protestaktion im Stadion von Charkiw (Foto: dpa)
Protestaktion im Stadion von CharkiwBild: picture-alliance/dpa

Was hat Sie bei Ihrer Reise in die Ukraine am meisten beeindruckt?

Ich war beeindruckt von Julia Timoschenko, von einer so zierlichen und doch so tapferen und starken Frau, die zwar auf dem Krankenbett liegt, aber sich doch aufrecht hält. Man merkt, sie schöpft diese Kraft, weil es ihr nicht allein um ihr eigenes Schicksal geht. Sie hat große Sorgen, dass dieses Land in eine Diktatur abdriften könnte.

Soll Bundeskanzlerin Angela Merkel Ihrem Bespiel folgen und in die Ukraine zu einem EM-Spiel reisen?

Ich habe immer gesagt, wir dürfen diese Europameisterschaft nicht boykottieren. Wir müssen das System, das Regime Janukowitsch boykottieren. Wir müssen diesem Präsidenten Paroli bieten und deshalb teilnehmen an dieser Europameisterschaft und die Gelegenheit nutzen, diesen Leuten klare Worte entgegen zu halten und den Protest ausdrücken. Ich erwarte, dass das auch andere Politiker und Regierungsvertreter tun und hier Flagge zeigen.

Das Gespräch führte Roman Goncharenko