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Belarus: Schriftsteller als Gefangene des politischen Systems

24. November 2005

In Belarus wurde ein Verband regierungstreuer Schriftsteller gegründet. Hauptaufgabe der Mitglieder: Sie sollen in ihren Werken den autoritär regierenden Präsidenten Aleksandr Lukaschenko verherrlichen.

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Präsident Aleksandr Lukaschenko - vor ihm flüchten Schriftsteller ins ExilBild: AP

Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen zieht der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko alle Register, um seine potentiellen Gegner auszuschalten. Unter immer stärkeren Druck geraten nicht nur unabhängige Journalisten und oppositionelle Politiker, sondern auch Schriftsteller. Es häufen sich Überfälle auf demokratisch gesinnte Intellektuelle. Die Treue zum Präsidenten ist zum Zeichen nicht nur politischen, sondern auch gesellschaftlichen Überlebens geworden.

Unabhängige Schriftsteller unter Generalverdacht

Vor kurzem wurde nun ein Verband regierungstreuer Schriftsteller gegründet. An seiner Spitze steht der frühere Leiter des Wahlstabs von Aleksandr Lukaschenko. Er soll dafür sorgen, dass über den belarussischen Präsidenten nur Positives geschrieben wird. Mit der Gründung eines neuen Schriftstellerverbandes wird die Tätigkeit der bereits bestehenden Schriftstellerorganisation außer Kraft gesetzt. Dessen Vorsitzender Ales Paschkewitsch sieht dieser Entwicklung mit großer Skepsis entgegen: "Während der Perestrojka diente der Schriftstellerverband als eine geistige Grundlage, aus der politische Parteien und Bürgerinitiativen entstanden. Belarussische Schriftsteller arbeiteten für ihre Heimat. Sie steigerten nicht nur das Ansehen der nationalen Kultur, sondern waren auch Aufklärer."

Nun erhält der unabhängige Schriftstellerverband keine staatliche Unterstützung mehr. Seinen Mitgliedern werden oppositionelle Tätigkeiten vorgeworfen: Sie würden gegen ihr Land arbeiten. Diejenigen, die keine aktive Unterstützung für Lukaschenkos Politik zum Ausdruck bringen, gelten automatisch als untreu, so Ales Paschkewitsch. Weil sie die Anschauung der Leser beeinflussen können, werden sie aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannt.

Flucht ins Exil

Swetlana Aleksiewitsch ist eine davon. Um die staatliche Verfolgung zu vermeiden, hat die in Belarus bekannte Schriftstellerin vor fünf Jahren das Land kurzerhand verlassen. Heute arbeitet sie an ihren Werken im deutschen Exil, in einer kleinen Stadt bei München. Am liebsten würde sie aber in ihrer Heimatstadt Minsk leben. Im Moment muss sie jedoch auf diesen Wunsch verzichten. "Ich musste Belarus verlassen, denn ich spürte, dass ich zu einer Geisel der Barrikaden wurde. Ich war einfach nicht mehr imstande, diese wunderbare Welt in ihren bunten Farben wahrzunehmen", erzählt Frau Aleksiewitsch.

Wegen ihrer systemkritischen Werke geriet die 56-Jährige unter staatlichen Druck. In ihren Büchern befasst sie sich mit den brisantesten Themen der belarussischen Gesellschaft. Ihre Dokumentar-Prosa macht auf eine sehr überzeugende Weise klar, was heute in Belarus passiert und warum es so und nicht anders ist. "Die Staatsmacht, die lediglich von einer Person abhängt, von ihrer momentanen Stimmung und ihrer Weltanschauung, ist sehr gefährlich. Viele Schriftsteller aus meinem Bekanntenkreis leiden darunter. Einige von ihnen sind sogar spurlos verschwunden."

Oppositionelle Schriftsteller bedroht

In letzter Zeit wechselten immer mehr Autoren auf die Seite der Regierung, sagt sie, denn eine Mitgliedschaft in einem oppositionellen Schriftstellerverband könnte ihre Existenz ruinieren. Dafür müssten sie mit Repressalien rechnen, erzählt Aleksiewitsch: "Alle sind so verzweifelt und fühlen sich absolut machtlos. Derzeit ist der gesellschaftliche Widerstand auf einem absoluten Tiefstand angekommen. Es wurden unabhängige Zeitungen verboten und Bürgerinitiativen geschlossen. Unter solchen Bedingungen bleibt nur eine Form des Widerstandes: Man sollte sich als Persönlichkeit bewahren und versuchen sich auf seine Arbeit zu konzentrieren."

Trotzdem blickt die belarussische Schriftstellerin Swetlana Aleksiewitsch optimistisch in die Zukunft. Sie hofft, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren kann, um dort ihre Arbeit für das Land fortzusetzen: "Es werden auch andere Zeiten kommen. Keiner hat Lebensgesetze verändert. Sie sind genauso zeitlos und unumkehrbar wie die Gesetze der Natur. Man sollte keinesfalls in eine Depression geraten, wie es bei einigen Menschen in Belarus der Fall ist."

Olja Melnik, Gennadij Kessner
DW-RADIO/Russisch, 23.11.2005, Fokus Ost-Südost