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Belgiens Jahrhundert-Prozess

Bernd Riegert, zurzeit Arlon 1. März 2004

Sieben Jahre nach der Verhaftung hat der Prozess gegen Marc Dutroux begonnen. Die Belgier wollen vor allem beantwortet wissen: Handelte er im Auftrag eines Pädophilen-Netzwerks - gedeckt bis in höchste politische Kreise?

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Bild: AP

Vor dem Justizpalast in der südbelgischen Provinzhauptstadt Arlon hielt ein einsamer Demonstrant, ein älterer Herr aus einem Nachbardorf, ein mit rosa Schleifen eingerahmtes Pappherz hoch. Darauf waren die Fotos von Julie und Melissa zu sehen. Die beiden achtjährigen Mädchen hatte Marc Dutroux mit seinen Komplizen 1995 entführt, in ein Kellerverlies gesperrt, vergewaltigt und dann höchstwahrscheinlich verhungern lassen. Im Schaufenster des Friseursalons neben dem Gerichtsgebäude liegt ein Foto von Efje und An im Fenster, die 19- und die 17-Jährige wurden wahrscheinlich ebenfalls von Dutroux ermordet. Darunter die Mahnung: Nicht nur die, die Taten begehen, sind schuldig, sondern auch die, die wegschauen.

Die Angst vor dem Skandal

Mit stiller Wut nehmen die meisten Menschen in Arlon Anteil an dem Jahrhundert-Prozess, der in ihrer beschaulichen Provinzstadt im Süden Belgiens am Montag (1.3.04) begann. 68 Prozent aller Belgier sind nach wie vor überzeugt, dass Marc Dutroux nicht als einsamer Perverser, sondern als Lieferant für einen Kinderschänder-Ring handelte. Während die Kronanwälte diese These nicht verfolgen, gab Marc Dutroux selbst wieder Anlass zu wilden Spekulationen.

Dutroux Prozess in Arlon - Michel Nihoul
Michel NihoulBild: AP

In einem Brief an einen belgischen Fernsehsender bezichtigt der vorbestrafte Vergewaltiger seinen Mitangeklagten Michel Nihoul, das Scharnier zwischen den Kindesentführern und Pädophilen in der feinen belgischen Gesellschaft gewesen zu sein. Er sei, so schreibt Dutroux, instrumentalisiert worden, die Affäre reiche bis in die Justizkreise Belgiens. Eine seiner Anwälte, Martine van Praet, kündigte an, dass Dutroux am Mittwoch (3.3.04) aussagen werde: "Nicht seine Anwälte werden sprechen, er wird selber aussagen und er wird seine Geschichte erzählen."

Der mitangeklagte Helfer Dutrouxs, der drogensüchtige Michel Lelièvre, will von einem Netzwerk nichts wissen. Sein Anwalt, Olivier Slusny weist Verschwörungstheorien zurück: "Das ist so wie bei der Ermordung von Präsident Kennedy. Man will eine Erklärung haben, aber es gibt keine."

Zwei Hauptzeugen

Georges-Henri Beauthier, Anwalt von Laetitia, einem der beiden Mädchen, dass die Torturen im Kellerverlies überlebte, sagte, Dutroux sei ein Mann, der nichts mehr zu verlieren habe und deshalb abenteuerliche Behauptungen aufstelle. Seine Mandantin erhoffe sich von dem Prozess, der mit der Befragung von 490 Zeugen voraussichtlich bis Mitte Mai 2004 dauern wird, ein wenig mehr Wahrheit. Es gehe ihm darum, die Schlampereien bei der Polizei aufzudecken: "Die vier Mädchen hätten lebend gefunden werden können, und die anderen wären nicht entführt worden, wenn die Polizei ihre Arbeit gemacht hätte. Die hätte schon einige Wochen nach den ersten Entführungen zuschlagen können."

Sabine, die zweite Überlebende, wird ebenso wie Laetita im Verfahren als Belastungszeugin auftreten und will ihrem Peiniger, den sie für komplett verrückt hält, direkt in die Augen sehen.

Der erste Tag

Marc Dutroux
Bild: AP

Am Ende des ersten Prozesstages vereidigte der Präsident des Schwurgerichts, Stephane Goux, die 12 Geschworenen und 12 Ersatzleute. Sie wurden aus einer Gruppe von 180 ausgelosten Kandidaten ausgewählt. Die allermeisten wollten aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Befangenheit von dem Dienst in der Jury befreit werden. Eine Mutter sagte, ihre Tochter sei jetzt acht Jahre alt und heiße wie eines der Opfer Julie, deshalb könne sie nicht unparteiisch über Marc Dutroux richten.

Der Hauptangeklagte, der unter schweren Sicherheitsvorkehrungen in das Gericht gebracht worden war, folgte der Jury-Auswahl in einem Glaskasten völlig teilnahmslos, manchmal auf der Tischplatte schlafend. Am Montag (3.3.) sagte er im Gerichtssaal nur seinen Namen und gab an, er habe keinen Beruf.

Die Provinz und die Weltöffentlichkeit

Der Prozess gegen Dutroux stößt auf riesiges Medieninteresse. Nicht nur aus Belgien, sondern aus aller Welt sind 1300 Journalisten nach Arlon gekommen. "So viele Fremde auf einmal, habe ich noch nie in unserer Stadt gesehen", sagte die Bedienung im Cafe du Nord am Marktplatz. Arlon ist Gerichtsstand, weil das letzte Opfer, Laetitia, aus der Nähe stammt. Die Geiseln hatte Dutroux in seinen Häusern südlich der Hauptstadt Brüssel gehalten. Dort wurden auch die vier Leichen exhumiert.

Marc Dutroux hat zugegeben, seinen Kumpanen Bernhard Weinstein getötet zu haben. Somit dürfte ihm die Höchststrafe, nämlich lebenslange Haft sicher sein. In einer Meinungsumfrage forderten zwei Drittel der Belgier die Todesstrafe, die allerdings 1996 wenige Wochen vor Dutrouxs Verhaftung abgeschafft worden war.