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"Ben Ali muss zu seiner Verantwortung stehen"

13. Januar 2011

Die Tunesier gehen weiter auf die Straße. Sie demonstrieren gegen Armut, Arbeitslosigkeit und vor allem gegen Präsident Ben Ali. Auch die internationale Presse kritisiert den umstrittenen Präsidenten.

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Bild: DW

Die französische Tageszeitung Le Monde sieht in der tunesischen Gesellschaft einen echten Wandel:

"Zu den sozialen Forderungen der Protestbewegung seit Mitte Dezember ist eine neue Botschaft hinzugekommen, die gegen die Regierung gerichtet ist. Der Staatschef wird immer deutlicher zur Zielscheibe der Demonstranten. Noch vor einigen Tagen war es in Tunesien unvorstellbar, dass Plakate mit dem Bild des Präsidenten abgerissen, mit Steinen beworfen und in Brand gesteckt werden, von jungen Leuten, die sich dabei ohne Hemmungen filmen lassen. Auch die Familie von Präsident Zine el Abidine Ben Ali Ben Ali steht im Visier der Protestler. Im Internet kursieren die wildesten Gerüchte, so über eine Abreise des Schwiegersohns des Präsidenten nach Kanada. Auch wenn sie falsch sind, so bezeugen diese Informationen einen wirklichen Wandel: der Zorn ist stärker geworden als die Furcht."

Die linksliberale römische Tageszeitung La Repubblica hält die tunesische Regierung für hilflos:

"Die Straßen von Tunis sind besetzt von Panzern. Nach den letzten gewalttätigen Auseinandersetzungen hat die Regierung entschieden, härter vorzugehen. Jede Art von Versammlung vermeiden, Ordnung von oben garantieren, Tunis beschützen, heißt es. Doch Präsident Ben Ali hat sich verrechnet. Es weht ein neuer Wind und er weht über große Teile der Gesellschaft: Denn tatsächlich demonstrieren nicht mehr nur die Armen und Arbeitslosen, sondern Gewerkschafter, Studenten, Anwälte und Künstler, die den Abzug von Ben Ali, das Ende der Diktatur und Demokratie und Freiheit fordern - eben jene Freiheit, die es bisher nicht gibt. Doch die Angst, dass die Revolte von Kommunisten oder Islamisten ausgenützt werden konnte, ist groß bei vielen Protestierern."

Ben Ali habe die Gefahr erkannt, glaubt die französische Regionalzeitung La Charente Libre

"Wird Präsident Ben Ali nach vier Wochen Unruhen, die rund 50 Tote gefordert haben sollen, die Situation wieder unter Kontrolle bekommen? Jedenfalls scheint er nun erstmals (...) das politische Ausmaß der Krise begriffen zu haben, die seine Regierung ins Wanken bringt. Indem er die Freilassung aller Demonstranten anordnete, die bei den Protesten festgenommen wurden, und seinen Innenminister entließ, sandte der Präsident ein klares Signal an die Jugend. Eine Jugend, die mindestens ebenso gegen ein von Korruption und Vetternwirtschaft zerfressenes Regime protestiert wie gegen die immer schlechter werdende wirtschaftliche Lage."

Tunesiens Präsident müsse handeln, meint dazu die Wiener Zeitung Kurier:

"Ben Ali hat sich - so wie immer mehr seiner Untertanen im von der Zentrale ökonomisch vergessenen Landesinneren - zum Überlebenskampf entschlossen: Panzer patrouillieren in der Hauptstadt, der Innenminister ist gefeuert, der Kampf gegen Korruption und 300.000 neue Jobs sind versprochen. Ben Ali ist, anders als die Videos aus seinem Land insinuieren, nicht allein: In der Zeitung Le Temps lancierten "tausend Persönlichkeiten in Entscheidungsfunktion" einen Appell, Ben Ali möge sein Werk "vollenden". Diese Profiteure des Systems brauchen einen Umsturz mit folgendem Chaos in einer ohnehin schwierigen Region so wenig wie USA und EU. Die Frage wird sein, ob der alte Herr in Tunis zu einem einigermaßen vernünftigen Dialog mit seinen revolutionshungrigen Bürgern fähig ist."

Die deutsche Tageszeitung Osnabrücker Zeitung verweist auf die Rolle Frankreichs in dem Konflikt:

"Jetzt kann Staatspräsident Ben Ali nicht mehr so tun, als wäre nichts: Die Unruhen sind bei ihm vor der Haustür angekommen. Innerhalb weniger Wochen haben sich die Proteste gegen mangelnde Zukunftsperspektiven für die Jugend gesteigert zu Protesten gegen einen Staat, der sein Volk unterdrückt. Das weiß auch der Staatschef. Seine nervösen Reaktionen zeugen davon, dass ihn die Ereignisse überrascht haben, dass er sich verschätzt hat. Offenbar hat er sich zu lange sicher gewähnt, ist betriebsblind geworden in seinem Reich, in dem ihm seit 23 Jahren kaum jemand widersprochen hat. Noch ist völlig unklar, wohin Tunesien in diesen Tagen steuert. Es besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs, wenn die Energie der Protestler anhält und Ben Ali das Militär zuschlagen lässt. Die aufgeheizte Stimmung zeigt, dass die Ruhe, die auch Europa sich von Tunesien wünscht, nicht mehr so billig zu haben sein wird wie bisher. Wenn die Tunesier ihre Unterdrückung abschütteln wollen, sollten sie von Frankreich, ihrer einstigen Kolonialmacht, unterstützt werden. Dass Paris - und damit ist es im Westen sicher nicht allein - in Tunis lieber einen Diktator sieht als islamistische Fanatiker, ist bekannt. Doch die Tunesier dürfen hierfür nicht als Puffer missbraucht werden. Sie wollen Veränderung. Dass die gleichbedeutend mit religiöser Radikalisierung sein soll, ist keineswegs gesagt."

Die katholische Tageszeitung La Croix aus Frankreich fordert Ben Ali auf, schnell Lösungen zu finden:

"Präsident Ben Ali muss in diesen Tagen zu seiner Verantwortung stehen. Ursprünglich war er Träger eines Projekts von Reformen für sein Land, doch im Lauf der Zeit hat er die Macht vollständig an sich gerissen und sein Regime von den Interessen der Bevölkerung abgeschnitten. Gewiss gibt es zahlreiche Zwänge in einer Region, in der der Protest rasch eine radikale Wende nehmen kann. Die Ansammlung vieler gut ausgebildeter Jugendlicher ist ein schwieriges Problem in zahlreichen Ländern, das nicht immer mit Erfolg gelöst wird. Gerade angesichts dieser Herausforderungen hätte das Regime in Tunis schon längst Vereinigungen und Formen des friedlichen Ausdrucks von Meinungen erlauben sollen. Jetzt muss Ben Ali schnelle Lösungen finden."

Zusammengestellt von: Christine Harjes
Redaktion: Klaudia Pape