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Berlinale: Kein Lippenbekenntnis!

Nadine Wojcik17. Februar 2016

Ein Filmfestival nicht nur über, sondern vor allem mit Flüchtlingen: Die Berlinale lädt mehrere hundert von ihnen ins Kino ein, bietet Hospitanzen und Festival-Futter von syrischen Köchen an.

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Patenschaftsprogramm der Berlinale, Anna Hartmann und Kheir Allah Sweid, Foto: DW/Nadine Wojcik
Eingespieltes Team: Berlinale-Patin Anna Hartmann (rechts) und Kheir Allah Sweid aus SyrienBild: DW/N. Wojcik

Wie ihm der Film gefallen hat? Kheir Allah Sweid lächelt gelassen, auf diese Frage ist er bereits vorbereitet. Zuvor hatten ihn schon zwei Fernsehteams und eine Radioreporterin um seine Meinung gebeten. "Wir haben schon gescherzt, wer wohl mehr Interviewanfragen hatte: Jury-Präsidentin Meryl Streep oder Kheir", sagt Anna Hartmann. Sie ist Kheirs Berlinale-Begleitung und damit eine von mehr als 200 Paten, die während des Filmfestivals mit bis zu vier Flüchtlingen ins Kino gehen. Das mediale Interesse an dieser Aktion ist groß: Bei den vielen diesjährigen Festivalbeiträgen über Flüchtlinge möchten viele Journalisten natürlich wissen, was diese selbst über die Filme denken.

Eigentlich schaue er am liebsten Action-Filme, sagt Sweid und fügt mit trockenem Humor hinzu, dass dazu durchaus auch Flüchtlingsfilme zählen. "Wir haben genug Action in Syrien, mehr als uns lieb ist." Kheir Allah Sweid und Anna Hartmann hatten Freikarten für "Fuocoammare" bekommen. Der Dokumentarfilm zeigt schonungslos die Opfer der lebensgefährlichen Überfahrten von Nordafrika auf die italienische Insel Lampedusa. Der palästinensische Syrer Sweid hat vor rund fünf Monaten ebenfalls eine solche Bootsfahrt überstanden, von der Türkei bis nach Griechenland. "Das war wirklich gefährlich, das Meer war recht stürmisch", erinnert sich der 25-Jährige.

"Die Menschen müssen davon erfahren"

Anna Hartmann sieht ihn besorgt an. Die beiden haben sich vor vier Monaten am Landesamt für Gesundheit und Soziales, der Berliner Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge, kennengelernt, die aufgrund langer Bearbeitungszeiten und chaotischer Zustände stark in der Kritik steht. Sweid und ein Freund waren dort gestrandet und drohten die Nacht im Freien zu verbringen. Als Mitarbeiterin für das Deutsch-Arabische Zentrum für Bildung und Integration hatte Hartmann ihnen damals geholfen - seitdem sind die beiden in Kontakt geblieben. "Seine Frau ist weiterhin in der Türkei", sagt die 34-Jährige. "Ihr steht die Überfahrt noch bevor." Der Syrer nickt. "Ich telefoniere jeden Tag mit ihr. Wir warten noch, die See ist derzeit sehr unruhig."

In "Fuocoammare" werden in besonders erschütternden Szenen Flüchtlinge gezeigt, die in einem zu engen und voll besetzten Boot starben oder fast verdursteten. "Das ging ihm schon sehr unter die Haut. Mir natürlich auch, aber ihn hat das deutlich mitgenommen", sagt Hartmann, die im Nachhinein vielleicht lieber einen anderen Film angesehen hätte. Sweid gibt sich hingegen furchtlos: "Natürlich ist das schlimm. Aber wir haben keine Angst. Wir haben alles verloren, wir haben nichts mehr zu verlieren." Er findet es wichtig, dass solche Filme gemacht werden: "Die Menschen müssen davon erfahren." Und nicht nur über die Fluchtwege sollte gesprochen werden: "Wir wollen in Ruhe und Frieden leben - mehr wollen wir gar nicht."

Positives Feedback von Flüchtlingen und Ehrenamtlichen

Patenschaftsprogramm der Berlinale Anna Hartmann und Kheir Allah Sweid
Viel gefragt: Anna Hartmann und Kheir Allah SweidBild: DW/N. Wojcik

An dem erstmaligen Patenschaftsprojekt der Berlinale nehmen rund 40 gemeinnützige Berliner Organisationen teil, wie beispielsweise der "Arbeitskreis Asyl", das Berliner Rote Kreuz, die "Flüchtlingspaten Syrien" oder "Moabit hilft". Die Ehrenamtliche besuchen gemeinsam mit den Flüchtlingen die Berlinale-Vorstellungen - so dass dies nicht nur kostenfreien Zutritt zu den Filmen ermöglicht, sondern vor allem auch die schon bestehenden Bekanntschaften zwischen Geflüchteten und Deutschen vertieft.

"Wir haben viel positives Feedback bekommen", sagt Berlinale-Verwaltungsleiterin Adrienne Boros. "Für viele ist es eine Möglichkeit, einen Teil des kulturellen Lebens in Berlin kennenzulernen, aber auch - zum Beispiel bei arabischen Filmen - über die Leinwand in die Heimat zu reisen." Anna Hartmann rechnet der Berlinale das Engagement hoch an. Sie ist in Berlin aufgewachsen und besuchte das Festival schon als Kind. "In diesem Jahr geht es ja um das Thema Flucht, und es wäre unangebracht", findet sie, "wenn wir die ausschließen würden, über die die Filme gemacht werden."

Berlinale 2016 - Flüchtling Hussam Nayef
Flüchtling Hussam Nayef aus Syrien ist einer von 18 Berlinale-HospitantenBild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Hilfe beim Berufseinstieg

"Das Recht auf Glück" ist das Motto der diesjährigen Berlinale und zeigt unter anderem zahlreiche Beiträge zu Flucht und Vertreibung. In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk machte Berlinale-Leiter Dieter Kosslick deutlich, warum insbesondere die deutsche Kulturlandschaft Verantwortung trage: nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seien die Deutschen die größte Gruppe der Geflüchteten und auf Hilfe dringend angewiesen gewesen.

Berlinale 2016 Foodtruck "Unter dem Tellerrand" mit Mudar El Sheich (Mitte), Foto: DW/Nadine Wojcik
Mudar El Sheich (Mitte) liebt den Mix von Esskulturen aus der ganzen WeltBild: DW/N. Wojcik

Eine kleine Hilfestellung für den Neuanfang der heutigen Flüchtlinge sind Berlinale-Hospitanzen. 18 junge Menschen aus Afghanistan, Guinea, Irak, Mali, den Palästinensischen Gebieten, Tschechien, Serbien und Syrien können beim diesjährigen Filmfestival Berufserfahrung sammeln. In Zusammenarbeit mit dem Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migranten wurde ihnen ermöglicht, im Pressezentrum, an Infoschaltern, im Fundbüro, bei der Akkreditierung oder Kinobetreuung Erfahrung zu sammeln. Keine Eintagsfliege - die Berlinale möchte dauerhaft Geflüchteten auch nach dem diesjährigen Festival den Einstieg ins Berufsleben erleichtern.

Mudar El Sheich hat zumindest schon einmal einen Minijob, er ist bei "Über den Tellerrand" angestellt. Der Verein bewirtet der bei der Berlinale in Kooperation mit der Sektion "Kulinarisches Kino" einen eigenen Food-Truck. Der Syrer aus Aleppo lebt seit mehr als einem Jahr in Berlin und ist eigentlich Arabisch-Lehrer. Im Moment fasziniert ihn jedoch das Kochen: Als er anfangs in einer tristen Notunterkunft lebte, überzeugte ihn dort das Angebot von "Über den Tellerrand" und dem gemeinsamen Kochen. "Die Idee gefällt mir: Ich habe viele Menschen, zum Beispiel aus Ägypten oder dem Iran, und deren Kulturen kennengelernt."

Und jetzt auch die Berlinale: Gemeinsam mit dem sardinischen Sternekoch Roberto Petza und dessen Team kocht er täglich gemischte Gerichte wie beispielsweise italienische Pasta mit orientalischem Hummus. Von den Filmen kriegt er in dem kleinen Küchentruck nichts mit, dafür aber von den Besuchern: "Ich lerne wieder Menschen aus der ganzen Welt kennen, und es freut mich, dass sie mehr über unser Projekt wissen wollen", sagt Mudar El Sheich - in fast fließendem Deutsch.

Berlinale Food Street, Foto: DW
Der Foodtruck von "Über den Tellerrand" ist in guter Gesellschaft!Bild: DW/R. Rai