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Berliner Schlingerkurs wirft Fragen auf

Sabine Kinkartz, Berlin14. September 2015

Grenzen auf, "Wir schaffen das", Selfies mit Flüchtlingen, Grenzen zu. Der Umgang der Bundesregierung mit der Flüchtlingskrise wirft bohrende Fragen auf. Antworten gibt es aber wenige.

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Symbolbild - Grenzkontrollen Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Am Tag nach der Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Deutschland sind die Gesichter in Berlin noch ein bisschen ratloser. Die Journalisten haben den Vorteil, dass sie daraus Kapital schlagen können, indem sie Fragen stellen. Viele Fragen. Dafür stehen an jedem Montagvormittag der Regierungssprecher und die Sprecher der Ministerien in der Bundespressekonferenz zur Verfügung. Aber haben sie die passenden Antworten?

Eine erste Frage ergibt sich aus den Änderungen auf dem Terminplan der Bundeskanzlerin. Die Lage muss ernst sein. Sowohl die für Dienstag und Mittwoch geplante Klausurtagung des Bundeskabinetts zur Digitalisierung als auch ein Treffen Angela Merkels mit dem estnischen Ministerpräsidenten sind abgesagt. Stattdessen wird am Dienstag der österreichische Regierungschef Werner Faymann im Kanzleramt erwartet, kurz danach will das Kabinett beraten und am Abend soll es ein Treffen Merkels mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer geben. Es geht, natürlich, einzig und allein um die Asyl- und Flüchtlingspolitik.

Über Nacht schaffen wir das nicht

Das klingt nach Krise. Nicht nach "Wir schaffen das", wie die Bundeskanzlerin vor einer Woche zuversichtlich verkündet hat. Wie es zu der 180-Grad-Wendung der Bundesregierung innerhalb einer Woche kommen konnte, will eine Korrespondentin wissen. "Erst heißt es, alle Grenzen auf und alle können kommen und seit dem Wochenende sind die Grenzen wieder zu. Was ist da passiert?"

Regierungssprecher Steffen Seibert ist vorbereitet. "Die Bundesregierung handelt stets so, wie die Lage es erfordert", formuliert er amtlich. "Die Lage gestern hat es erfordert, dass der Bundesinnenminister diese temporären Grenzkontrollmaßnahmen bekannt gegeben hat."

Darauf hat die Korrespondentin nur gewartet. Ob diese "Lage" von der Bundeskanzlerin mit verschuldet worden ist, fragt sie nach. Waren die Grenzöffnung und die Selfie-Fotos der Kanzlerin mit Flüchtlingen aus heutiger Sicht vielleicht doch eine falsche Entscheidung? "Nein", antwortet Seibert knapp. Auf keinen Fall will er den Eindruck erwecken, dass etwas schief läuft. "Es gilt nach wie vor: Wir schaffen das, aber niemand hat gesagt wir schaffen das über Nacht oder in einigen wenigen Tagen."

Deutschland Flüchtling macht Selfie mit Merkel in Berlin-Spandau (Foto: Reuters)
Selfie mit der KanzlerinBild: Reuters/F. Bensch

Was ändert sich durch die Grenzkontrollen?

Immer mehr Kollegen geben dem Leiter der Bundespressekonferenz ein Zeichen, die Liste der Fragesteller wird länger und länger. Vor einer Woche sei die Grenze mit dem Hinweis auf eine drohende humanitäre Notlage geöffnet worden. "Schafft man durch die jetzt beschlossenen Beschränkungen nicht wieder eine Situation, an der sich irgendwo ein Rückstau bilden wird, der dann wieder zu einer humanitären Notlage führen wird?", fragt ein Korrespondent. Am Ende beißt sich die Katze in den Schwanz, soviel ist klar.

Schnell wird auch klar, dass die Grenzkontrollen natürlich nicht dazu führen, dass Flüchtlinge abgewiesen und zurückgeschickt werden. Wer an der Grenze um Asyl bittet, muss passieren dürfen. Aber wofür sollen die Kontrollen dann gut sein, wenn sich dadurch nichts ändert? Der Sprecher des Innenministeriums windet sich. "Da es sich bei Grenzkontrollen um eine operative Maßnahme handelt, deren Erfolg in Frage gestellt würde, wenn man Details dieser Maßnahme öffentlich macht, kann ich dazu keine weiteren Angaben machen", wiegelt er ab, gibt dann aber doch noch etwas preis. Allerdings bei ausgeschalteten Mikrofonen und nur "unter drei". Das heißt, die Journalisten müssen diese Informationen für sich behalten.

Wie geht es weiter?

Große Erleuchtung bringt auch das nicht. Vielmehr wird immer klarer, dass die Politik den Ereignissen hinterher läuft. Jede Äußerung in den vergangenen Tagen hatte einen Sog-Effekt. Ein kommunikatives Dilemma. Offenbar hat die Bundesregierung auch nicht damit gerechnet hat, dass sich innerhalb einer Woche so viele Menschen auf den Weg nach Deutschland machen würden.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel spricht bereits von einer Million Flüchtlingen in diesem Jahr. Das Bundesinnenministerium will das zwar nicht bestätigen und beharrt auf der bekannten Zahl von 800.000. "Aber es liegt in der Natur einer Prognose, dass sie nur eine Prognose ist, also man kann es nicht ganz genau sagen", führt der Sprecher aus.

Steffen Seibert (Foto: Anadolou)
Regierungssprecher Seibert in ErklärungsnötenBild: picture-alliance/AA/Mehmet Kaman

Schlichte Betrachtungen

Nach 50 Minuten zieht der Leiter der Bundespressekonferenz die Notbremse und macht "den Sack für heute zu". Es werde nicht das letzte Mal gewesen sein, dass zu diesem Thema gefragt werden könne. Regierungssprecher Seibert ist inzwischen etwas ungeduldig geworden. "Ich bin hier nicht für die chronologische Nacherzählung von Wochenenden zuständig", hat er auf die Frage geantwortet, was zwischen der Rückkehr des Bundesaußenministers aus Prag am Freitag und der Entscheidung für Grenzkontrollen am Sonntag genau vorgefallen sei.

Er sagt aber auch, es sei natürlich klar, "dass europäische Begegnungen in unsere Entscheidungen hineinreichen, genauso wie die schlichte Betrachtung der Wirklichkeit am Bahnhof München und an anderen Orten in Deutschland". Sprich: Angesichts der Weigerung der europäischen Nachbarn, Flüchtlinge aufzunehmen und der Überlastung der deutschen Erstaufnahmelager blieb wenig Spielraum. In der Hoffnung, dass sich die Nachricht von den Grenzkontrollen unter den Flüchtlingen schnell verbreitet und der Zustrom vorübergehend etwas abebbt. Der Illusion, er werde nachlassen, gibt sich in Berlin niemand hin.