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Beschädigte Leben

Silke Bartlick11. Februar 2015

Beim Thema Missbrauch wenden sich viele ab. Die Berlinale hat nun dazu eingeladen, genauer hinzusehen. Sie sprengt mit Filmen über Pädophilie und Vergewaltigung Tabus und fordert zur Auseinandersetzung auf.

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Filmausschnitt aus "Chorus"
Bild: Films 53/12/Anouk Lessard

Das war ungewöhnlich: Vor Beginn der Vorführung bedankt sich Veronika Lisková, dass das Publikum es auf sich nimmt, ihren Film anzugucken. 75 Minuten später dankt ihr dieses Publikum für ein sehr besonderes Portrait und für all die Fragen, die es aufwirft. Der scheue Literaturstudent, der im Zentrum ihrer Dokumentation "Daniel's World" steht, ist 25 Jahre alt und pädophil. Dass er Jungs mag, hat er mit 13 gemerkt. Dass er die, die zwischen acht und zehn Jahre alt sind, besonders mag, hat ein Sexologe attestiert. Seit Jahren setzt sich Daniel immer wieder mit seiner sexuellen Orientierung auseinander. Er hat sich schuldig gefühlt und sich vor sich selbst geekelt, er hat sich zurückgezogen, war einsam, depressiv. Irgendwann begann er sich zu fragen, woher all der Hass gegen die eigene Person kommt. Denn es gab nichts, wofür er sich hätte schämen müssen. Er hat nie etwas Unrechtes getan, guckt keine Kinderpornos, hat noch nie einen Jungen angerührt. Und er ist sich sicher, dass er das auch nie tun wird.

Tabus sprengen

Warum Daniel sich dennoch so geschämt hat? Die Antwort fand er in Gesprächen mit anderen Betroffenen: Weil Pädophile in der Gesellschaft ein ganz bestimmtes Image haben. Weil sie ein Phantom sind, von dem man eigentlich nur zu wissen meint, dass sie Kindern weh tun wollen. Tatsächlich ist das Thema weitgehend ein Tabu, kaum jemand mag sich ihm stellen. Umso wichtiger ist dieser Film, dieser Tabu-Bruch, der auch davon erzählt, wie Missbrauch zu verhindern ist: indem aus der sexuellen Orientierung kein Geheimnis gemacht wird.

Filmausschnitt aus "Daniel's World" von Veronika Losková
Daniel's WorldBild: Berlinale 2015

Daniel, der tschechische Student, schreibt Bücher, erzählt Geschichten über einen Mann, der kleine Jungs liebt. Einer seiner Freude hat ihn mal gefragt, ob er selbst der Pädophile wäre, über den er schreibt. Nach kurzem Zögern hat Daniel das bestätigt. So begann sein Coming-out. Seine Mutter weiß Bescheid, die Freunde und auch die Eltern von Misha, den Daniel besonders gerne mag - allerdings nur aus der Ferne. Auf Unverständnis oder Ablehnung ist der junge Mann bislang kaum gestoßen. Vielleicht ist es ihm deshalb nicht schwer gefallen, sich von Veronika Liskovás Kamera begleiten zu lassen und ihr Einblick in sein Leben, Denken und Fühlen zu gewähren. Sie hat sein Vertrauen in keinster Weise missbraucht, "Daniel's World", eine Auftragsarbeit des Tschechischen Fernsehens, ist ein zurückhaltender Film geworden, der einem mutigen, jungen Mann auf Augenhöhe begegnet und seinen Zuschauern Einblicke in eine bislang verschlossene Gefühlswelt erlaubt.

Mut zum Risiko

"Es gibt Themen, denen man sich nur ungern nähert", hatte Wieland Speck, bei der Berlinale der Leiter der Sektion Panorama, vor Beginn der Filmfestspiele gesagt. Aber das Filmangebot 2015 zeige, dass es offensichtlich an der Zeit sei, auch so schwierige Themen wie Pädophilie, sexuelle Selbstbestimmung sowie unterschiedlichste Umstände und Aspekte von Kindesmissbrauch mit größerer Risikobereitschaft anzugehen. Bereits der Eröffnungsfilm im Panorama Spezial hat das getan – "Härte" von Rosa von Praunheim erzählt die wahre Geschichte des in Berlin lebenden Karate-Champions Andreas Marquardt, der von seiner Mutter jahrelang sexuell missbraucht und vom Vater erbarmungslos verprügelt wurde. Marquardts Selbstbewusstsein wurde zerstört, Gefühle hat er nicht zugelassen. Er wurde Zuhälter, ein ganz brutaler, und hat insgesamt acht Jahre im Knast gesessen. Dort begann er eine Therapie. Heute ist er ein anerkannter Karate-Trainer und veranstaltet Charities für missbrauchte Kinder.

Filmausschnitt aus "Härte" von Rosa von Praunheim
Härte: Hanno Kofler (l.) als junger Andy und Andreas Marquardt (r.)Bild: Berlinale 2015

Rosa von Praunheim erzählt das alles in einer ganz eigenen Filmsprache, in einer Collage aus Dokumentation und verfremdetem Spielfilm. Er hat mit starken Schauspielern gedreht, in schwarz-weiß und oft nur angedeuteten Räumen. Das schafft Abstand, die Verfremdung macht die beklemmenden Szenen aus Marquardts Leben erträglich. Im deutlichen Kontrast dazu stehen die in Farbe gedrehten Kommentare von Andreas Marquardt und dessen Freundin Marion. Auch sie ist ein missbrauchtes Kind, der Stiefvater hat sich jahrelang an ihr vergangen. Marquardt kennt sie, seit sie 16 ist. Sie ist als eine von vielen für ihn auf den Strich gegangen, wurde von ihm verprügelt und hält dennoch bis heute zu ihm.

Herausforderung Film

Bislang bekommt keine Gesellschaft Missbrauch in den Griff. "Man müsste", sagt Wieland Speck, "das Tabu auflösen, um zu einer sinnvollen Prävention zu kommen – wie damals bei AIDS". Die Filme in seinem Programm leisten dazu einen Beitrag, aus unterschiedlichsten Perspektiven. Und sie tun weh. Am emotional berührendsten ist der kanadische Spielfilm "Chorus", der von der Trauerarbeit eines Paares erzählt, dessen Sohn vor zehn Jahren verschwunden ist. Damals war Hugo acht. Nun gesteht ein Gefängnisinsasse, was er damals mit ihm gemacht hat und wo seine Leiche verscharrt ist. Schwer erträglich ist das. Aber leicht machen will es die Berlinale ihrem Publikum ja nur selten.