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Bevölkerungspolitik ist in Deutschland kein Tabu mehr

Sebastian Herold2. Januar 2006

Anders als im Nachbarland Frankreich galt Bevölkerungspolitik im Deutschland der Nachkriegszeit als Tabuthema. Doch mit der Krise der Sozialsysteme wird nun darüber diskutiert.

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Kindergarten in OstdeutschlandBild: dpa - Report

Mit Neid schauen die Deutschen manchmal auf das Nachbarland Frankreich - denn dort gibt es das Problem "Nachwuchsmangel" nicht. Die französische Zeitung "Le Figaro" verkündete kürzlich stolz: "Wir sind 62 Millionen Franzosen." Die französische Bevölkerung wächst, während die deutsche schrumpft. Heute hat Frankreich die höchste Geburtenzahl in Europa, mit mehr Geburten im Jahr als Deutschland, das immerhin 82 Millionen Einwohner zählt.

Für diese Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung gibt es eine Vielzahl von Gründen, wovon die Bevölkerungspolitik der jeweiligen Regierung sicher nur einer ist. Fest steht aber, dass eine aktive Bevölkerungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des nationalsozialistischen Regimes verpönt war. Ganz anders in Frankreich: Dort forderte Staatspräsident Charles de Gaulle von seinen Landsleuten 12 Millionen Babys - und das fanden die Franzosen gar nicht anstößig.

Der Rassenwahn der Nazis

Diese Art der Bevölkerungspolitik wäre in Deutschland nach dem Ende der Nazi-Herrschaft nicht denkbar gewesen. Reiner Klingholz vom "Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung" erklärt, warum: "Unsere nationalsozialistische Vergangenheit hat das Thema mit Begriffen wie Rassenforschung, Rassenideologie sehr belegt und deshalb gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Vorsicht, sich mit solchen Themen überhaupt auseinander zu setzen."

Diese Scheu ist in allen ehemals faschistisch regierten Ländern Europas zu spüren, denn die Bevölkerungspolitik war dort Mittel zum Zweck: Die eigene Nation sollte hochgezüchtet werden, um über andere zu dominieren. In einer Rundfunkansprache des deutschen Reichsinnenministers Wilhelm Frick zum Muttertag 1935 kommt der mörderische Rassenwahn der Nationalsozialisten plastisch zum Ausdruck: "Ihnen allen ist es ja zur Genüge bekannt, wie besorgniserregend der Geburtensturz des deutschen Volkes seit der Jahrhundertwende bis vor kurzem gewesen ist; wie sich die traurige Tatsache der falschen Auslese und der Rassenmischung auszuwirken begann, weil die lebenstüchtigen Familien in allen sozialen Schichten immer weniger Kinder bekamen, während oft weniger wertvolle und entartete sich ungehemmt vermehrten, oder verantwortungslose deutsche Menschen sich mit fremdrassigen verbanden."

"Schlachtfeld der Frau"

Die Nationalsozialisten machten Bevölkerungspolitik in ihrem Sinne. Deutsche Mütter mit mehr als drei Kindern wurden ab 1938 mit dem Mütterkreuz ausgezeichnet. Adolf Hitler bezeichnete die Mutterschaft als "Schlachtfeld der Frau", denn deutsche Frauen sollten deutsche Soldaten zur Welt bringen. Durch wirtschaftliche Anreize und die ideologische Überhöhung der Mutterrolle sollte der Wunsch nach möglichst vielen Kindern geweckt werden.

Dieser Wahn der Nationalsozialisten nach einer reinrassigen Bevölkerung war es, der die Familienpolitik später zum Tabuthema machte. Die deutschen Politiker der Nachkriegszeit hätten sich diesem Thema bewusst ferngehalten, sagt der Bevölkerungs-Forscher Klingholz. "Konrad Adenauer hat gesagt 'Kinder bekommen die Leute sowieso', Helmut Schmidt hat einmal gesagt, die Politik habe in den Betten der Bewohner nichts zu suchen, auch Helmut Kohl und am Anfang auch die Schröder-Regierung wollten sich in familienpolitische Dinge nicht einmischen."

Steigende ideologische Temperatur

Bevölkerungspolitik wollte keiner betreiben, zu stark roch das nach der Nazi-Zeit. Erst seit kurzem wird darüber lebhaft diskutiert, beispielsweise wird gefragt, ob die größere Geburtenfreudigkeit der französischen Frauen etwas mit den besseren Angeboten für die Kinderbetreuung im Nachbarland zu tun haben könnte. Diese neue Debatte hat vor allem handfeste materielle Gründe - Auslöser war die Krise der Sozialsysteme. "Wobei die heutige Krise der Sozialsysteme mit demographischen Faktoren noch gar nichts zu tun hat", erläutert Reiner Klingholz. "Das kommt erst noch, und zwar ab dem Jahr 2015, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen." Die Debatte sei in den vergangenen Monaten entideologisiert worden. "Die Fragen der Ganztagsbetreuung in Kindergärten oder in Schulen werden plötzlich von allen anerkannt, und plötzlich geht's."

Diese neue Offenheit in Deutschland, sich auf sachliche Weise dem Thema Bevölkerungsentwicklung zuzuwenden, ist positiv. Die Kehrseite dieser neuen Offenheit ist die Tendenz - die es bei allen anderen politischen Themen auch gibt - das Thema emotional aufzuheizen. Nicht wenige Publizisten und Medien malen das Ende der deutschen Gesellschaft an die Wand, indem sie Schlagworte wie "Geburtenkollaps" oder "Gebärstreik" einsetzen. Eindringlich mahnt daher der Wissenschaftler Jay Winter von der amerikanischen Universität Yale die Deutschen, die "ideologische Temperatur dieser Debatte zu senken."