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"Bevor wir etwas tun, denken wir nach"

25. August 2005

Gibt es einen "freien Willen"? Oder denkt der Mensch und Gott lenkt? Professor Wolfgang Prinz, Psychologe, verteidigt die menschliche Vernunft.

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Die Gedanken sind freiBild: Max-Planck-Institut für Strömungsforschung


DW-WORLD: Herr Professor Prinz, Sie werden immer wieder zitiert mit dem Satz "Wir tun nicht, was wir wollen, wir wollen, was wir tun." Ist das tatsächlich so?

Wolfgang Prinz: Dieser Satz ist das pointierte Resümee für die Interpretation der Experimente des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet. Bei diesen Experimenten sieht es so aus, als würde erst die Bewegung im Gehirn in Gang gesetzt – zum Beispiel, dass man einen Finger hebt – und irgendwann später hat die Person den Eindruck, dass sie die Bewegung auch tatsächlich will.

Willentliche Entscheidungen kommen aber im allgemeinen auf andere Weise zustande als reflektorische Handlungen, Triebhandlungen oder auch so triviale Dinge, wie wann man einen Finger hebt. Es gibt sehr viel mehr Situationen im Alltagsleben, bei denen wir erst einmal gründlich nachdenken, bevor wir etwas tun.

Wir können also weiterhin davon ausgehen, dass wir nicht nur aufs Reagieren reduziert sind, sondern dass es Beweggründe, Vernunft, Verstand, planvolles Handeln gibt?

Die gibt es, aber trotzdem ist nicht ganz klar, welche Rolle sie spielen. Das, was wir wahrnehmen - nämlich unsere Absichten -, muss nicht automatisch das sein, was tatsächlich unser Handeln bestimmt. Es kann sein, dass wir uns täuschen, dass das, was wir wahrnehmen, nicht genau die Funktionen hat, die wir ihm zuschreiben. Denn unsere Wahrnehmung ist lediglich ein selektives Abbild der Wirklichkeit.

Auch das, was wir über unser Innenleben wissen, ist hochgradig selektiv. Es unterliegt Täuschungen und kann genauso falsch sein, wie das, was wir über die Welt wissen. Und es sagt nichts darüber aus, ob die zugrunde liegenden Prozesse und Mechanismen tatsächlich so funktionieren, wie unsere Intuition das sagt.

Aber das hieße ja, dass jeder die Welt auf subjektive Art und Weise wahrnimmt. Kann man sich dann überhaupt noch mit anderen austauschen?

Wenn die Subjektivität bei den unterschiedlichen Personen ähnlich organisiert ist, ist das kein Problem. Und dass das so ist, dafür sorgen soziale Mechanismen. Subjektivität kommt nicht naturgegeben in uns vor, sondern wird sozial konstruiert. Soziale Diskurse und Praktiken sorgen dafür, dass die Ausbildung von Subjektivität in den Individuen gleichgeschaltet ist. Denn sonst würde Kommunikation nicht mehr funktionieren.

Gibt es eine soziale Determination des Tuns - dass man automatisch auf soziale Rahmenbedingungen reagiert?

Ja, natürlich! Wir modernen Menschen sind zu 99 Prozent von sozialen und technischen Artefakten umgeben. Wir werden zu dem, was wir sind, nur dadurch, dass wir mit anderen Menschen zusammenleben. Ich würde gern eine Theorie entwickeln, nach der menschliche Subjektivität ebenfalls ein soziales Artefakt ist. Und dass auch der freie Wille sozial fabriziert wird. Aber er erscheint uns natürlich so, als sei er von Haus aus gegeben. Dabei ist es keinesfalls sicher, dass das, was wir über unser Innenleben wahrnehmen, irgendetwas darüber aussagt, wie frei oder unfrei die zugrunde liegenden Prozesse sind.

Wenn wir nicht frei sind - wie erfolgt denn die Entscheidung, etwas zu tun oder zu lassen?

Ich denke, dass die Entscheidung im Wesentlichen über soziale Kontrolle erfolgt. Soziale Interaktionsmechanismen führen dazu, dass wir uns im Laufe unseres Lebens allmählich als "verantwortliche Akteure" begreifen, die für die Konsequenzen ihres Tuns einzustehen haben. Das wiederum führt dazu, dass wir individuelle Praktiken entwickeln, unsere Entscheidungen und unsere Handlungen so zu regulieren, dass wir jederzeit über die Gründe eine sozialverträgliche Auskunft geben können. So werden wir erzogen.

Und weil das so ist, werden wir zu Individuen, die erst einmal nachdenken, bevor sie etwas tun. Der Wille ist demzufolge eine moralische Instanz und kein "Organ der Seele", das naturgegeben vorhanden ist. Die Idee des freien Willens ist "erfunden" worden in der christlichen Moralphilosophie des Augustinus und der Kirchenväter. Der freie Wille ist also erfunden worden als etwas, das man braucht, um zu erklären, wie es möglich ist, dass Menschen moralisch handeln.

Das hieße dann aber auch, dass es im Prinzip nur edle, hilfreiche und gute Menschen geben müsste – dem ist aber nicht so. Warum?

Die Menschen haben nun einmal auch ganz andere als nur moralisch gute Motive, und sie können ihre als unmoralisch geltenden Bedürfnisse und Triebe nicht immer in der Weise kontrollieren, wie es erforderlich wäre. Kriminalität haben die Gesellschaften bis zu einer gewissen Grenze immer tolerieren müssen. Außerdem ändern sich die Moralsysteme laufend – damit werden sie weniger stabil und weniger wirkungsmächtig. Das erklärt zwar nicht, warum das so ist, aber so ist die Welt.

Warum ist es so schwierig, menschliche Roboter zu bauen? Ist vielleicht unser kleines Gehirn zu komplex? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Man kann den Eindruck gewinnen, als würden die Neurowissenschaftler derzeit am liebsten jegliches Handeln des Menschen auf physikalische Phänomene reduzieren wollen …

Ich würde bezweifeln, dass irgendein Neurowissenschafler an diesen Dingen forscht. Sie forschen an Synapsen und sie forschen an Zellen, aber sie erforschen nicht, wie menschliches Handeln allein durch Zellen und Synapsen reguliert wird. Darüber schreiben sie nur im Feuilleton … Aber natürlich glaube auch ich, dass alles, was Menschen denken und tun, letzten Endes verkörpert und realisiert wird durch Prozesse, die in Synapsen und Nervenzellen stattfinden.

Aber allein dadurch, dass man Synapsen untersucht, versteht man noch nichts von der Funktionsweise des Gehirns. Ganz im Gegenteil. Gehirne sind Organe, die bestimmte Leistungen auf der Verhaltens- und Handlungsebene erbringen müssen. Und nur deshalb haben sie sich zu materiellen Maschinen entwickelt, die diese Leistungen auch tatsächlich realisieren können. Ohne die Leistungen zu verstehen, kann man nicht verstehen, wie das Gehirn funktioniert.

Wie versteht man es dann?

Man kann nur umgekehrt vorgehen: Man muss von den Funktionen ausgehen, die das System erbringt. Ich bin sehr dafür, zusammen mit den Neurowissenschaften ihren reduktionistischen Ansatz weiter zu verfolgen. Aber das kann nicht bedeuten, dass die komplexeren Beschreibungsebenen verschwinden.

Im Normalfall geht man von oben nach unten vor: Man lässt den komplexeren Erklärungs- und Analyseebenen einen gewissen Vorlauf, damit sie ihre Hypothesen entwickeln können. Danach sucht man auf den elementareren Analyseebenen nach den Prozessen, die möglicherweise dafür relevant sind.

Ist das der Grund, warum es so schwierig ist, Roboter zu bauen, die sich wie Menschen verhalten?

Man kann solche Roboter bauen, jedenfalls für bestimmte Funktionen. Es geht aber nur, in dem man zuerst die Leistung analysiert, die der Roboter erbringen soll, und davon ausgehend dann an der Realisierung arbeitet. Einen Roboter zu bauen, der sich in einer komplexen Umgebung so bewegen kann, dass er nicht überall aneckt, ist sehr kompliziert.

Ob und wie weit man es schafft, mit silikonbasierten Maschinen ähnliche kognitive Funktionen zu realisieren, wie das in natürlichen Systemen möglich ist, halte ich im Augenblick für eine offene Frage. Fest steht aber: Die Systeme, die wir alle in unseren Köpfen haben, sind – zumindest derzeit noch – ungleich viel effizienter als nichtbiologische Systeme.

Ist das lediglich eine noch ungelöste Forschungsaufgabe oder ist das auch eine Glaubensangelegenheit – eine Art Vertrauen in ein überirdisches Prinzip, das uns einzigartig macht?

Wir wissen einfach noch zu wenig darüber, wie die Realisierung von mentalen Funktionen durch das Gehirn erfolgt – und ob kognitive Leistungen dieser Komplexität tatsächlich nur in biologischen Systemen möglich sind. Denn nur dort beobachten wir sie bisher.

Es spricht eine Menge dafür, dass biologische Systeme ein Feature haben, das es ihnen erlaubt, ungeheuer große Rechenkapazitäten auf sehr kleinem Raum zu realisieren. Vielleicht sind ja auch irgendwelche Design Principles am Werk, die wir noch nicht verstehen.

Das würde aber immer noch nicht den lieben Gott auf den Plan rufen. Den lieben Gott lassen die Wissenschaftler immer aus dem Spiel. Manche sind privat gläubig, aber in den Wissenschaften kommt der liebe Gott als Akteur nicht vor.

Das Gespräch führte Ingun Arnold

Professor Dr. Wolfgang Prinz leitet seit 1990 die kognitionspsychologische Abteilung des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung, München (seit 2004 Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften München/Leipzig). 1993 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.