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Bildergeschichten: Dem Volk? Der Einheit? Dem Vaterland?

Tillmann Bendikowski25. März 2014

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1916: Der Reichstag erhält mit Verspätung eine Inschrift.

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Berlin - Inschrift "Dem Deutschen Volke" wird am Reichstag angebracht
Bild: ullstein

Der mächtige Bau ist schon lange fertig, da fehlt über dem Westportal des Deutschen Reichstags in Berlin noch immer die vorgesehene Inschrift. Erst 1916, 32 Jahre nach der Einweihung, bringen Mitarbeiter einer Berliner Bronzegießerei die Buchstaben für den ursprünglich geplanten Schriftzug "Dem Deutschen Volke" an. Damit findet eine seit Jahren geführte Debatte ihren Abschluss, hinter der ein machtpolitischer Konflikt stand: Sollte hier tatsächlich das Volk "regieren"? Den deutschen Fürsten und allen voran dem Kaiser will ein solcher demonstrativer Anspruch zunächst nicht gefallen.

Im Dezember 1894 erklärt der liberale süddeutsche Abgeordnete Friedrich Payer, wie sehr er den geplanten Schriftzug vermisst. "Wie ich hierher kam, habe ich diese Inschrift nicht gefunden", beklagt er sich während einer Parlamentssitzung. Auch andere wollten jetzt die Leerstelle nicht einfach hinnehmen. Der sozialdemokratische "Vorwärts" spottet bei dieser Gelegenheit, man könne sich doch eingedenk des Militarismus im Lande für die Inschrift "Dem Deutschen Heere" entscheiden.

Die zuständige Reichstagsbau-Kommission stimmt bald mehrheitlich für die ursprünglich geplante Erwähnung des Volkes und legte seine Entscheidung Wilhelm II. vor. Der will jetzt lieber "Der Deutschen Einigkeit" – Einheit unter seiner Führung ist für ihn wichtiger als jegliche parlamentarische Mitbestimmung. Erst im Ersten Weltkrieg kann er eine Geste der Anerkennung zulassen; der Reichstagspräsident verkündet im Plenum den Kurswechsel "auf Anregung und direkten Antrag des Herrn Reichskanzlers" (wobei jeder weiß, dass dies nur mit Zustimmung des Kaisers möglich ist). Nun also doch "Dem Deutschen Volke".

Die drei Worte aus Bronze müssen in den kommenden Jahren noch viel miterleben: die Niederlage von 1918, den Reichstagbrand 1933 und die schwere Beschädigung des Gebäudes im Zweiten Weltkrieg. Auch als Ruine trägt das Gebäude weiterhin den Schriftzug "Dem Deutschen Volke" – eine mehr als unfreiwillige, aber angesichts der deutschen Katastrophe durchaus eindrucksvolle Mahnung. Heute schmückt den Innenhof des Parlaments eine Installation des Künstlers Hans Haacke, die die Inschrift über dem Portal aufgreift. Sie setzt nicht nur den Deutschen ein Denkmal, sondern allen Menschen, die in Deutschland leben. Ihr gut lesbarer Titel: "Der Bevölkerung." Wenn das der Kaiser wüsste …