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Bildergeschichten: Widerstand braucht Fantasie

Tillmann Bendikowski4. März 2014

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1910: Die SPD bittet zum "Wahlrechtsspaziergang"

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Berlin - Wahlrechtsspaziergang
Bild: ullstein

Das Bild täuscht. Was an diesem 6. März 1910 wie ein sonntäglicher Spaziergang durch den frühlingshaft gestimmten Berliner Tiergarten aussieht, ist tatsächlich eine verbotene Demonstration. Die SPD hat erneut zum Protest gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht aufgerufen – und zwar in Form eines sogenannten "Wahlrechtsspaziergangs". Doch am eigentlich vereinbarten Treffpunkt am Treptower Park wartet schon die Polizei und verhindert die Kundgebung. Deshalb „spazieren“ die Demonstranten (rund 150.000 Menschen sollen dem Aufruf gefolgt sein) kurzerhand in Richtung Stadtzentrum. Wird dieser Protest die Regierung beeindrucken?

Bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus werden zu diesem Zeitpunkt in eklatanter Weise die Reichen bevorzugt, da sich der Wert einer Wählerstimme nach der Steuerlast des Wählers richtet: Die Vermögenden stellen so verhältnismäßig viele Wahlmänner (die dann die Abgeordneten wählen), die Geringverdiener und Armen verhältnismäßig wenig. Kritik kommt aus der Sozialdemokratie, deren Anhänger besonders von der Ungleichheit betroffen sind, aber auch von den Liberalen. Angesichts der zunehmenden öffentlichen Debatte will jetzt die Regierung unter Reichskanzler Bethmann Hollweg das Wahlrecht modifizieren. Doch da er mit Rücksicht auf die Konservativen allein eine kosmetische Veränderung vorschlägt, verärgert er die Kritiker nur noch mehr.

Nicht immer bleibt der Protest friedlich. Auch nicht an diesem 6. März 1910: Schon am Treptower Park treiben Polizisten die Sozialdemokraten mit blankem Säbel auseinander, ein Ordnungshüter wird von einem Stein am Kopf getroffen, zahlreiche Demonstranten werden verletzt, als einige Schanklokale geräumt werden. Doch die berittene Staatsmacht kann den Zug in die Innenstadt nicht aufhalten. Rote Fahnen werden geschwenkt, Arbeiterlieder gesungen und zuweilen Plakate hochgehalten: "Hoch das allgemeine Wahlrecht!"

Dass die Demonstranten gerade vor dem Reichstag flanieren, hat durchaus symbolische Bedeutung: Denn bei den Wahlen zum Reichstag gilt anders als in Preußen bereits das moderne allgemeine und gleiche Wahlrecht – wenn auch nur für Männer. Im Reich ist man in dieser Hinsicht also schon weiter als in Preußen. Erst mit dem Sturz der Monarchie 1918 wird auch das preußische Dreiklassenwahlrecht endlich Geschichte. Jetzt wird mehr Demokratie gewagt – in ganz Deutschland übrigens: Ab jetzt dürfen nämlich auch die Frauen wählen.