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Bildung für Menschlichkeit

Gaby Reucher28. August 2012

In der Schule lernen, wie eine gerechtere Welt funktioniert, dafür plädiert der südafrikanische Bürgerrechtler Denis Goldberg. Mit seinen Vorträgen ist er auch in deutschen Schulen zu Gast.

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Hände halten einen Globus hoch (Foto: Fotolia/Joachim Wendler)
Bild: Fotolia/Joachim Wendler

22 Jahre verbrachte der südafrikanische Bürgerrechtler Denis Goldberg während der Apartheid im Gefängnis. Heute ist er Ehrenpräsident der Wohltätigkeitsorganisation H.E.A.R.T (Health Education and Reconstruction Training), die er selbst 1995 in Großbritannien gegründet hat. Im vergangenen Jahr erhielt Goldberg für seine Verdienste um die deutsch-südafrikanischen Beziehungen und seinen Einsatz für eine gerechte Welt das Bundesverdienstkreuz. Im DW-Interview erläutert er, warum Bildung für Menschlichkeit so wichtig ist.

DW: Herr Goldberg, Sie werben weltweit für Menschlichkeit und soziales Handeln und sehen da auch die Bildungsinstitutionen und die Medien in der Pflicht. Wie sollen die Menschen Ihrer Meinung nach über die Bildung an diese großen humanen Ziele herangeführt werden?

Denis Goldberg: Wenn man hört, dass Leute zur Schule gehen, denkt man unmittelbar, dass ihre Lehrer und Lehrerinnen ausgebildet sind. Aber was lernen die Schüler? Es sind meist nur Fakten, Daten und die Namen von Königen und welche Kriege es in ihrer Amtszeit gab. Bildung an sich ist wichtig, aber auch, welche Inhalte die Bildung ausmachen. Wir müssen im Geschichts- oder Politikunterricht auch nach den Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft fragen. Sind es zum Beispiel die Reichen, die die Macht haben? Oder wenn der Begriff Sozialdemokratie auftaucht: Was bedeutet sozial, was bedeutet Demokratie?

Denis Goldberg (Foto: DW / K. Danetzki)
Der Bürgerrechtler Denis GoldbergBild: DW/K. Danetzki

1943 - also zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Faschismus und des Rassismus überall in Europa - war ich 10 Jahre alt. In meinem Schulbuch stand, Südafrika sei eine Demokratie, weil alle Erwachsenen wählen dürften. Als ich nach Hause kam, habe ich zu meiner Mutter gesagt: "In meinem Schulbuch steht, dass alle Erwachsenen in Südafrika wählen können, aber es sind doch nur die Weißen." Das ist ein Beispiel für kritisches Denken. Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, wo über solche Sachen geredet wurde. Es ist immer wichtig, Hintergründe zu kennen und zu lernen, Dinge einzuordnen.

Das heißt, kritisches Denken und das Hinterfragen von Fakten kommen Ihnen oft zu kurz. Ist das ein weltweites Problem, oder sind die Industrienationen da schon weiter fortgeschritten?

Es gibt eine Schicht in der Gesellschaft, in der die Idee, dass Eltern ihren Kindern die Dinge erklären, einen hohen Stellenwert hat. Ich bin dafür, dass die Schulen, dass Lehrer und Lehrerinnen und auch die Medien, insbesondere das Fernsehen, Werte wie Humanismus und Menschlichkeit überall in der Welt übertragen. Da geht es um das Verständnis der Menschen füreinander.

Ein Wandgemälde für Neslon Mandela in einem Township in Johannesburg (Foto: dpa)
Ubuntu fordert Solidarität von den MenschenBild: picture-alliance/dpa

In Südafrika wird es "Ubuntu" genannt. Das ist ein afrikanischer Begriff von Humanismus, und es bedeutet so viel wie: Ich bin nur durch andere. Mit anderen Worten: Ohne Gesellschaft, ohne eine Gemeinschaft bin ich nichts. Ubuntu fordert Solidarität von Menschen. Und in unserer Welt der Ausbeutung, in der es so großen Reichtum und so große Armut zugleich gibt, ist diese Solidarität unter Menschen, die Menschlichkeit, in Vergessenheit geraten.

Haben Sie denn Beispiele, wo so etwas funktioniert, wo die Menschen gemeinsam etwas erreicht haben, auch in Bezug auf Bildung?

Ich komme aus Südafrika. Bei unserer Befreiung von der Apartheid 1994 war die Hälfte der Bevölkerung Analphabeten. Jetzt gehen ungefähr 90 Prozent aller Kinder in die Schule. Viele der Schulen haben aber keine ausreichende Infrastruktur, die Gebäude sind alt, oder es gibt nur einen Baum, unter dem sich das Klassenzimmer befindet. Das ist sehr schwer für die Kinder. Aber langsam bauen wir etwas auf. Und wenn man in unsere Universitäten geht, sieht man nicht mehr nur ein Meer von weißen Gesichtern, sondern Gesichter von allen Südafrikanern. Und das ist wichtig.

Sie plädieren dafür, sich stärker für das Erlernen sozialer Kompetenzen einzusetzen, um in der Gesellschaft langfristig etwas zu verändern.

In zivilen Gesellschaften und Organisationen kann man informell lernen und aufwachsen. Es gibt aber auch in anderen Teilen der Welt die Tendenz, über das Internet lernen zu müssen, das heißt, man schaut einen Bildschirm an und lernt dabei etwas. Nach meiner Erfahrung können vielleicht 30 Prozent der jungen Leute so lernen. Es gibt aber auch eine mittlere Schicht, auch etwa ein Drittel, und eine untere Schicht, die Hilfe brauchen. Sie brauchen menschliche Hilfe, Motivation, Verständnis, sie brauchen Erklärungen für schwierige Gedanken und Themen. Aber die, die keinen Zugang zu einer oberen akademischen Schicht haben, werden vernachlässigt.

Zwei Kinder bedienen einen PC für Kinder (Foto: dpa)
Nicht alle jungen Menschen können über das Internet lernen - viele brauchen auch menschliche Hilfe ...Bild: picture-alliance/dpa

Das ist in Deutschland auch so.

Ich habe viel vom deutschen Erziehungssystem gelernt. Aber ich weiß, dass zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund, die die Hauptschule besuchen, keine großen Chancen haben, eine Arbeitstelle zu bekommen. Sie beenden die Schule und werden dann arbeitslos fürs Leben, sozial hilfsbedürftig. Das ist tragisch. Wir müssen einen anderen Gedanken entwickeln zu den Fragen: Was ist sozial und was bedeutet Arbeit?

Lernen ist oft an die Wirtschaft gekoppelt. Es wird das gelehrt, was die Wirtschaft braucht.

In modernen Industrieländern werden immer weniger Arbeitskräfte gebraucht, um für den Eigenbedarf zu produzieren. Was machen wir dann mit der anderen Gruppe, wenn es keine Arbeit mehr in der Herstellung gibt? Wie sieht es mit der Versorgung der Kinder und der älteren Menschen aus? Ältere Menschen werden in Altersheimen untergebracht und sehr schlimm behandelt, ohne Respekt für ihre Leistungen. Wir müssen Parks ausbauen, Freizeitparks, Möglichkeiten zum Zeitvertreib. Auch das bedeutet, Mensch zu sein. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit haben wir ein funktionierendes Sozialwesen, und wir haben die finanziellen Möglichkeiten, Menschen zu helfen und sie als Menschen zu behandeln. Aber wir machen es nicht.

Nicht jeder Mensch ist ein Wohltäter, und nicht überall gibt es einen Sozialstaat. Aber darauf allein wollen Sie ja auch nicht bauen. Das, was Sie als Hilfe sehen, soll wahrscheinlich ein Anstoß zur Selbsthilfe sein.

Ich möchte nicht, dass die Leute einfach nur Geld, also Unterhalt bekommen. Ich möchte, dass sie die Möglichkeit haben, Menschenwürde zu erlangen, dadurch, dass sie selber arbeiten und etwas in der Gesellschaft schaffen. Wenn Familien Sozialhilfe bekommen, können sie ein paar Stunden pro Woche arbeiten. Aber was machen sie in der Zeit mit den Kindern? Wenn eine Mutter zum Beispiel einen spontanen Anruf bekommt, dass sie sofort Regale im Supermarkt einräumen könnte, und es gibt keine Kinderkrippe, dann kann sie nicht arbeiten gehen. Man braucht also mehr Kinderbetreuung, auch Tagesmütter, die diese Arbeit wiederum machen. Der Lohn, den die Leute bekommen, muss dann so hoch sein, dass Menschen ein respektvolles Leben führen können.

Ein kleines Mädchen isst in einem Kindergarten in Frankfurt (Oder) einen Fruchtquark (Foto: dpa)
Wohin mit den Kindern, wenn die Mutter arbeiten möchte?Bild: picture-alliance/dpa

Sie haben von Ihren Erfahrungen in Südafrika erzählt und auch von Ihren Erfahrungen in Europa, zum Beispiel hier in Deutschland. Gibt es bei diesen verschiedenen Systemen und Kulturen überhaupt einen globalen Ansatz, der überall greift und überall verstanden wird?

In dem Sinne, dass es die globalen Ideen der Menschenwürde und des gegenseitigen Respekts gibt. Es ist an der Zeit, dass die alten Kolonien und deren Bevölkerung nicht nur von europäischer Seite gesehen werden. Es gibt hier in Deutschland eine Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg". Dort war ein Foto von einem schwarzen Soldaten zu sehen mit der Bildunterschrift: "Es gab mehr Soldaten aus Afrika als aus Europa im Zweiten Weltkrieg. Wie wurden sie zu Befreiern?" Schwarzafrika hat mit seinen Ressourcen und seinen Soldaten Europa von den Nazis befreit oder zumindest geholfen, es zu befreien. Und was haben sie dafür bekommen? Ein Fahrrad und ein paar Schilling. Sie bekamen keine Rente, keine Wiedergutmachung.

Afrika hat viel zur Zivilisation beigetragen, und das zu verstehen, das beschäftigt mich. Deshalb möchte ich diese Ausstellung gerne nach Afrika bringen, damit die Afrikaner ihren menschlichen Stolz zurückbekommen können.

Also nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe, sondern auch ein Austausch von Kultur und Bildung zur eigenen Weiterbildung?

Ja, aber es braucht Hilfe. Woher soll ich als Land Südafrika Geld für solch ein Projekt bekommen? Glücklicherweise gibt es Stiftungen und Menschen in reichen Ländern, die dieses Verständnis haben durch unsere gemeinsame Menschlichkeit. Darum konnte ich schon meine 34. Lesereise in Deutschland machen. Ich spreche dort immer gegen Rassismus, gegen Vorurteile und Engstirnigkeit, für Zivilcourage. Es gibt hier in Deutschland ein wunderbares Projekt mit dem Namen "Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage". Es genügt nicht, nur schöne Visionen zu haben. Man muss etwas dafür tun. Und das ist Zivilcourage. Sieht man irgendwo Rassismus, dann sollte man sagen: "Nicht, wenn ich dabeistehe!" Das ist wichtig, das ist menschlich. Und ich sehe es in den Schulen überall in Deutschland. Ich werde immer häufiger eingeladen, über solche Dinge zu sprechen. Ich bin sehr froh darüber. Ich mache das in Südafrika auch und in Großbritannien, ich war auch schon in Amerika und Kanada. Das ist meine Aufgabe in diesem Leben.

Denis Goldberg, Redner beim Deutsche Welle Global Media Forum (Foto: Denis Goldberg)
Denis Goldberg setzt sich weltweit für Zivilcourage ein

Das Gespräch führte Gaby Reucher.