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Bitte nicht stören

Matthias Schepp, Stern2. März 2004

Korrespondenten berichten über ihren Alltag in China. Dabei merken sie, dass man dort selten allein ist. Auf der Suche nach Privatsphäre wird man prompt als Egoist abgestempelt. Lesen Sie Teil 1 unserer China-Woche.

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Von der Masse überrannt - der Alltag in ChinaBild: AP

Seit ich in China lebe, könnte ich mit den viel begafften Affen oder Löwen in den Zoos dieser Welt eine Selbsthilfegruppe gründen. Auch für die Boris Beckers und Claudia Schiffers habe ich größtes Verständnis. Scharen von Autogrammjägern und Paparazzi setzen ihnen nach. Ich bin schlimmer dran. Mir ist ein ganzes Volk auf den Fersen - 1, 3 Milliarden Chinesen.

Mit 1, 94 Meter Körpergröße bin ich nur schwer zu übersehen. Auf den Pekinger Trödelmärkten aber tritt mindestens eine Hundertschaft an, um stets das Fleckchen Asphalt zu besetzten, auf dem ich gerade stehe. China ist eine riesige Landmasse, leider meist unbewohnbare Wüsten und Gebirge. Alles drängt sich in Ebenen und Flußtälern. Wohnungen sind nur wenig größer als die Hundezwinger der Villen am Starnberger See, die Busse vollgestopft wie die U-Bahn in Tokio.

Egoismus und Gruppendynamik

Das chinesische Schriftzeichen für "privat" steht oft für Egoismus. Individualismus ist ein westliches Konzept, im Reich der Mitte zählt die Gruppe. Immer und überall. Bei einer Reportage über eine Akrobatenschule auf dem Lande folgten mir der Hausmeister, der Nachtwächter und das halbe Lehrerkollegium auf die öffentliche Toilette, ein Backsteinhäuschen mit zehn Löchern und ohne Trennwände. Mit einem entschuldigendem Grinsen verließ ich das Klo.

Dabei habe ich für Drückeberger nichts übrig. Ich bewundere die Chinesen für ihren zähen Fleiß. 24 Stunden täglich dröhnen die Hammerschläge von den Hochhaus-Baustellen in den Städten, unermüdlich bestellen die Bauern ihre Felder. Nur jüngst nicht in einem wuseligen Dorf in den Bergen der Fujian-Provinz. Allein meine Anwesenheit genügte. Ich hatte noch nicht ein Wort gesprochen, da legten die Bauern schon ihre Arbeit nieder. Sie hatten noch nie einen Ausländer gesehen. Recherche unmöglich. Die Bauern stellten die Fragen, nicht wir.

Abenteuer auf dem Land

Es ist also nicht verwunderlich, wenn das zwei Jahrzehnte währende Traum-Wirtschaftswachstum der Volksrepublik beständig sinkt. Es liegt an mir und anderen Ausländern, die überall Volksaufläufe verursachen. Ein Glück, dass die Geheimpolizei, sonst bei der Verfolgung von Journalisten nicht zimperlich, mein staatsschädigendes Treiben noch nicht entlarvt hat. Vielleicht aber hatten die Herren einen Verdacht und stürzten deshalb nachts in mein Zimmer in einem Fischernest am Jangtse-Fluss.

Ich hatte einen dieser typischen China-Reisetage hinter mir: Gedrängel am Bootsschalter, Sie wissen schon. Eine Schulklasse, die mich auf dem Schiff drei Stunden lang mit Blicken und Fragen in Geiselhaft hielt, während ich mich mühte, am Computer einen Text zu schreiben. Und bei der Ankunft in der verlausten Herberge begleitete mich der Besitzer aufs Zimmer, mit Gattin, Sohn, Schwiegertochter und zwei Enkeln. Sie wollten mir beim Auspacken meines Rucksacks zuschauen. Natürlich! Mein Abendessen in einer dampfenden Garküche an der Uferstraße glich einem Kreuzverhör durch die Dorfjugend: Wo ich herkomme, was ich verdiene, wieviel Kinder ich habe, was für ein Auto ich fahre?

Überleben im Überwachungsstaat

Neugier ist in China eine Sache des Überlebens. Weil Gesetze meist nur auf dem Papier stehen, muss man eben alles über seine Geschäftspartner wissen, oder über die Nachbarn. Persönliche Beziehungen entscheiden alles. Als Journalist profitiere ich oft davon. Nachdem ich ausführlich Auskunft über meine Schuhgröße gegeben habe, erzählen mir die Menschen auch gerne von ihrem Leben, und manchmal auch, was sie von Präsident Jiang Zemin, den Kommunisten, Pekings Weltraumplänen und einem möglichen Krieg gegen Taiwan halten.

Gegen Mitternacht schlief ich ein. Um zwei Uhr nachts stürzten zwei Polizisten in mein Zimmer, ein kleiner und ein dicker. Der Kleine verlangte meinen Pass und eine Erklärung, was ich in dem Dorf zu suchen habe. Ich seufzte nur: "Ja, kann man denn hier nie alleine sein." Der Dicke lachte und sagte: "Schlaf weiter." Auch Stasi-Spitzel haben Humor. Sie wissen am Besten: In der Volksrepublik ist niemand allein. Irgendwer schaut immer zu, irgendwer hört immer mit.