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Unglaubliches Bitterfeld

Martin Schrader14. Januar 2009

'Bitterfeld, Bitterfeld - wo der Dreck vom Himmel fällt', reimte zu DDR-Zeiten der Volksmund. 20 Jahre nach dem Mauerfall blühen Bitterfelds Landschaften. Bürgermeister Horst Tischer findet das schier unglaublich.

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Blick über die einstige Industriestadt Bitterfeld mit den Schornsteinen des 1994 stillgelegten Reichsbahnkohlekraftwerk Muldenstein, Copyright: dpa - Report
Am Himmel von Bitterfeld ist heute von den Umwelt-Exzessen der Vergangenheit keine Spur mehr zu sehenBild: picture-alliance/ ZB

Horst Tischer gerät ins Schwärmen, wenn er über Bitterfelds Entwicklung seit der Wiedervereinigung Deutschlands erzählt: "Es ist eigentlich eine unbeschreibliche Geschichte", sagt der ehrenamtliche Bürgermeister von Bitterfeld. Und dann versucht der 69-jährige frühere Ingenieur doch, das Unglaubliche in Worte zu fassen. Tischer beginnt bei Bitterfelds einstigem Ruf als schmutzigste Stadt der DDR, den man längst abgeschüttelt habe. Er schlägt einen Bogen über die vielen neuen Arbeitsplätzen, die entstanden sind, und landet schließlich bei der Bitterfelder Goitzsche, einem Erholungsgebiet mit See und viel Grün, das im früheren Kohlegebiet am Rande der Stadt entstanden ist.

Zunächst Abwärtssog

Vor diesem Aufschwung geriet Bitterfeld jedoch in einen drastischen Abwärtssog. Die einst 75.000 Arbeitsplätze verschwanden nach der Wende zum großen Teil. Fast jeder Vierte war in den 1990er-Jahren ohne Arbeit. Mit dem Wegfall der Jobs verlor die Stadt auch viele Einwohner. Vor allem die jungen Menschen zogen fort. "Das betrübt uns schon", sagt Tischer.

Eine Folge des Bevölkerungsrückgangs und der notwendigen Zusammenarbeit bei der Ansiedlung von Industrie: Im Sommer 2007 verschwand Bitterfeld als eigenständige Stadt von der deutschen Landkarte. Sie verschmolz damals mit ihrem Nachbarn Wolfen sowie den Gemeinden Greppin, Holzweißig, Thalheim und Rödgen zu der neuen Stadt Bitterfeld-Wolfen. 45.000 Einwohner hat dieses Patchwork-Gebilde. Fast ebenso viele lebten 1989 allein in Wolfen.

Grafik: DW / Olof Pock Datum 14.10.2008
Bitterfeld-Wolfen, Sachsen-Anhalt

Der Chemiepark

Ein industrieller Leuchtturm, über den Bürgermeister Tischer mit besonderer Freude berichtet, ist der Chemiepark von Bitterfeld-Wolfen. Er ist mit einer Fläche von 1200 Hektar größer als das angrenzende Bitterfeld selbst. Mit gewaltigen Investitionen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro seit 2001 ist hier ein Infrastruktur-Paradies für Unternehmer errichtet worden. Welch magnetische Anziehungskraft der Park hat, zeigt die Zahl Firmen, die sich hier schon niedergelassen haben: 360 Unternehmen aus der Schweiz, aus Norwegen, Australien, Chile, Frankreich, Schweden, den USA und Japan haben hier einen Sitz. Darunter Akzo Nobel, Bayer und Evonik (früher Degussa). Gemeinsam beschäftigen diese Unternehmen 11.000 Menschen.

Bayer-Werk in Bitterfeld, Copyright: picture-alliance/ dpa
Bayer stellt im Bitterfelder Chemiepark das weltbekannte Aspirin herBild: picture-alliance/ dpa

Von einem Unternehmen der Region wird eine besonders atemberaubende Erfolgsgeschichte erzählt: Ende 1999 gegründet, startete die Firma Q-Cells die Produktion von Silizium-Solarzellen im ersten Halbjahr 2001 mit nur 19 Mitarbeitern. Ende 2007 arbeiteten knapp 1700 Menschen bei Q-Cells, dem mittlerweile größten Solarzellenhersteller der Welt.

So ein Erfolg freut auch Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Reiner Haseloff. Er verlieh dem Unternehmen im Oktober die Ehrung "Erfolgsgeschichte - Made in Sachsen-Anhalt". Mit der Ehrung, sagte Haseloff, würdige das Land, dass das Unternehmen langfristig qualifizierte Arbeitsplätze in dieser Schlüsselbranche schaffe. Bis 2010 sollen nach Haseloffs Plänen im so genannten Solar Valley am Rande von Bitterfeld etwa 5000 Menschen in der Solarindustrie arbeiten. Die Region würde damit ihre Position als führender Solarstandort noch ausbauen.

Seglerparadies vor der Haustür

Hafen von Bitterfeld Copyright: Stadt Bitterfeld-Wolfen
Segelboote auf dem Goitzsche-See bei BitterfeldBild: Stadt Bitterfeld-Wolfen

Wer viel arbeitet, braucht am Wochenende auch etwas Erholung. Dazu müssen die Menschen aus Bitterfeld-Wolfen nicht weit fahren. Direkt vor ihrer Haustür ist ein früheres Tagebau-Loch geflutet und zum Naherholungsgebiet ausgebaut worden. An den Bootsstegen des Goitzsche-Sees schaukeln Segelyachten auf den sanften Wellen, an den Ufern entstehen Ferienhäuser und Restaurants. Die Rede ist bereits von der "Bitterfelder Riviera".

Gibt es in Bitterfeld also doch die vom Einheitskanzler Helmut Kohl 1989 ausgerufenen "blühenden Landschaften"? Diesen Ausdruck meidet Bürgermeister Tischer zwar. Als der regelmäßige Kirchgänger und frühere Organisator der Bitterfelder "Sonntagsdemos" aber am Ende seines gedanklichen Rundgangs durch Bitterfeld anlangt, betont er noch einmal: "Wenn man heute unsere Region mit der damaligen Zeit vergleicht, dann ist unglaublich, was sich hier entwickelt hat."