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Boom und Abrissbirne

Oliver Samson6. Januar 2009

Aufbau kann auch Abriss bedeuten: Ostdeutschland steht auch zwanzig Jahre nach der Wende vor enormen bevölkerungspolitischen Herausforderungen. Großstädte boomen - das Land blutet aus.

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Drei sanierte Plattenbauten im Wohngebiet Herrenberg in Erfurt
Relative Gewinner: Drei sanierte Plattenbauten im Wohngebiet Herrenberg in ErfurtBild: AP

Blühende Landschaften versprach Kanzler Helmut Kohl einst zur Deutschen Einheit. Und man kann sie auch finden im deutschen Osten: In und um Berlin, Dresden, Leipzig, Erfurt. Anderswo blüht Unkraut auf Trümmern vor zugemauerten Eingängen und leeren Fensterhöhlen. 1,3 Millionen Wohnungen stehen in Ostdeutschland leer. 350.000 Wohnungen sollen bis 2010 abgerissen sein. "Programm Stadtumbau-Ost" heißt das Förderprojekt. Man hofft auf Schrumpfen als Chance.

Plattenbau-Abriss in Stralsunder Wohngebiet
Abriss in Stralsunder WohngebietBild: dpa - Report

"Es gibt im Osten Deutschlands relative Verlierer und relative Gewinner", sagt Philipp Oswalt, Kurator des internationalen Projekts "Shrinking Cities". Architekten, Ethnologen, Geografen und Künstler haben dabei weltweit urbane Schrumpfungsprozesse beobachtet. Gewinner-Städte wie Leipzig oder Erfurt haben die Schrumpfung zumindest aufhalten können. In Potsdam, vor den Toren der Hauptstadt Berlin, gehören die Mieten zu den höchsten ganz Deutschlands. Das tiptop sanierte Görlitz erfreut sich inzwischen eines regen Zuzugs von Rentnern aus dem Westen.

Leuchttürme und Dunkelheit

Neben diesen Leuchttürmen gibt es aber im Osten viel Dunkelheit. Wie krass der wirtschaftliche und soziale Einschnitt der Wiedervereinigung war, zeigt sich am deutlichsten in der Demographie. Die Bevölkerung Ostdeutschlands könnte sich laut amtlicher Prognose bis 2050 halbieren. Unter den zehn am stärksten schrumpfenden Regionen Europas liegen drei in Ostdeutschland, hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung errechnet: Sachsen-Anhalt, Chemnitz und Thüringen. Postsozialistische Deindustrialisierungseffekte sehen darin die Forscher, verbunden mit dem Problem der Peripherie. Fernab von den Wachstumsregionen Mitteleuropas, fernab von Metropolen, ist die Zukunft ungewiss. Vor allem industrialisierte Mittelstädte schrumpfen. Wie etwa Eisenhüttenstadt, die einst als Stalinstadt gegründete Siedlung um ein Stahlwerk. Seit 1990 schrumpfte die Einwohnerzahl von über 50.000 auf 33.000. Schwedt an der Oder verhinderte nur mit Eingemeindungen, dass sich die Bevölkerung halbierte. Die Liste lässt sich fortschreiben.

Rein ländlich geprägten Regionen weitab der städtischen Zentren, etwa der Prignitz, der Uckermark oder der Lausitz, bleibt wenig Hoffnung. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung empfiehlt die Konzentration auf überlebensfähige Gemeinden. Manche Dörfer und Kleinstädte werden langfristig kaum überleben. Die Kosten für die Infrastruktur sind einfach zu hoch, wenn nur noch eine Hand voll Bewohner zurückbleiben. In Sachsen hat man beispielsweise herausgefunden, dass für die Wasserversorgung der Netzquerschnitt verkleinert werden muss. Wenn immer weniger Einwohner den Hahn aufdrehen, fließt das Wasser zu langsam. Keime und Ablagerungen können sich verbreiten.

Die Vierradener Straße von Schwedt, die Einkaufsstraße in der Innenstadt
Und die Menschen? Schwedt ist fast um die Hälfte geschrumpftBild: Stadt Schwedt

Geburtendefizit und Wegzug sind die beiden Hauptenden des Problemknotens: Über eine Million Einwohner haben die neuen Bundesländer seit der Einheit verlassen, nach Westen, den Jobs hinterher. Sachsen nimmt jährlich um mehr als 20.000 Menschen ab - das Land verliert eine Kleinstadt pro Jahr. Die Untersuchung "ostmobil" des Zentrums für Sozialforschung in Halle stellt fest, wer geht: Flexible, höher Gebildete - und vor allem junge Frauen. Die machen in den neuen Bundesländern doppelt so häufig Abitur wie ihre männlichen Altersgenossen. Sie finden anderswo gute Jobs, vor Ort aber immer weniger Partner, die sich auf gleichem Bildungsniveau bewegen. In einigen Kreisen des Ostens kommen noch 80 Frauen auf 100 junge Männer. Bis zum Jahr 2030 wird sich dort die Zahl der potenziellen Mütter halbiert haben. Damit fehlen immer mehr Kinder - dabei werden schon heute nirgendwo in Europa weniger Kinder als in Ostdeutschland geboren. Die Abwärtsschraube dreht sich. Schulen und Läden schließen, Häuser stehen leer, Wohnungen verfallen - es öffnet sich eine Riesenkluft zwischen Boom-Regionen und Gebieten, die veröden, prognostiziert das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Schwarz sehen will man im Osten aber nicht. Schließlich haben sich mancherorts Zukunftsbranchen wie Energie- und Umwelttechnologien angesiedelt. Und tatsächlich könne Schrumpfen eine Chance liegen, meint Philipp Oswalt von Shrinking Cities. "Der Prozess der vergangenen Jahre bringt Ostdeutschland sogar einen Entwicklungsvorsprung", sagt der Architekt. Denn auch in Westdeutschland schrumpfe die Bevölkerung. Ostdeutschland zeige quasi im Zeitraffer, was auch in Teilen Westdeutschlands wie Nordhessen und Nordbayern ablaufen wird.