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Blairs Chance in der EU-Krise

Grahame Lucas7. Juni 2005

Was ist von Tony Blair nach dem abgesagten Referendum nun als zukünftigem Ratspräsident der EU zu erwarten - Totengräber oder Hoffnungsträger? Grahame Lucas kommentiert.

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Das Nein in Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung hat dem britischen Premierminister Tony Blair enorm geholfen. Denn Blair gilt nach seinem knappen Wahlsieg Anfang Mai als angeschlagen. Bei einem verlorenen Referendum über die EU-Verfassung, daran ließen die politischen Kommentatoren keinen Zweifel, hätte Blair das Feld zugunsten seines innerparteilichen Widersachers und Finanzministers Gordon Brown räumen müssen.

Gute Gründe

Doch nun ist das Referendum in Großbritannien offiziell auf Eis gelegt und Blair sitzt wieder fest im Sattel. Und tatsächlich hatte der Premierminister gute Gründe dafür, die Abstimmung über die Verfassung zu stoppen. Nach den deutlichen Ergebnissen in Frankreich und den Niederlanden war ein positives Votum über die EU-Verfassung von den traditionell euroskeptischen Briten, die selbst gar keine schriftliche Verfassung kennen, nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Mehr als zwei Drittel der Briten würden zurzeit den Vertrag über eine Verfassung für Europa ablehnen. Wie die Franzosen hätten sie im Frühjahr 2006 wahrscheinlich die Chance genützt, ihr Missfallen nicht nur über den Kurs der EU, sondern auch über ihren führenden politischen Repräsentanten zum Ausdruck zu bringen.

So gesehen entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet das Land, das sich nicht wie Deutschland oder Frankreich eindeutig zu Europa bekennt, nun die rotierende EU-Präsidentschaft ab dem 1. Juli übernimmt und damit für die Lösung der europäischen Krise verantwortlich zeichnet. Doch Schadenfreude kann sich Großbritannien nicht erlauben, denn London ist genauso wie die anderen 24 Mitglieder auf eine funktionierende Europäische Union angewiesen.

Zuckerbrot und Peitsche

Wenn sich Blair als europäischer Krisenmanager bewährt, kann er sich nicht nur im Ausland neue Meriten erwerben. Zwar sehen noch immer viele Briten Europa lediglich als eine Freihandelszone und lehnen das Modell der sozialen Marktwirtschaft auf dem Kontinent ab, doch ihr Regierungschef wird sich in die Auseinandersetzung nicht hineinziehen lassen. Blair weiß, dass diese Diskussion Europa politisch sprengen und seinem Land schaden würde. Stattdessen wird er es mit Zuckerbrot und Peitsche versuchen und zunächst auf Kompromissbereitschaft setzen. Entgegen der Erwartung hat er das Verfassungsprojekt nicht für tot erklären lassen. Ihm ist klar, dass es Ideen enthält, die für das erweitere Europa lebensnotwendig sind. Noch wichtiger aber: Blair hat Europa aufgefordert, Antworten auf die Globalisierung zu finden, ohne die sozialen Sicherungssysteme abzuschaffen. Damit erkennt er, was viele andere europäische Politiker nicht einsehen wollen: in Europa kann es nach den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden nicht einfach “weiter so” heißen.

Andererseits aber, damit es überhaupt weitergeht, will es Blair durchaus mit der Peitsche versuchen und Verhandlungen über eine Aufstockung des EU-Beitrags Großbritanniens als Faustpfand einsetzen. Vor diesem Hintergrund verspricht die britische EU-Präsidentschaft Spannung pur und ein neues Kapitel in der Karriere von Tony Blair.