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Blutbad mit offenen Fragen

Dennis Stute22. März 2012

Waren am Massaker von Kandahar mehrere US-Soldaten beteiligt? Die NATO verspricht Aufklärung. Doch in der Vergangenheit waren solche Untersuchungen oft mangelhaft, kritisiert Amnesty International.

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US-Soldaten bei der Untersuchung eines Gebäudes (Foto: dpa)
US-Soldaten bei der Untersuchung eines Gebäudes (Foto: dpa)Bild: picture-alliance/empics

Was geschah wirklich in Kandahar? Unbestritten ist, dass in drei Dörfern der südafghanischen Provinz zahlreiche Zivilisten getötet wurden; inzwischen ist von 17 Menschen, darunter neun Kinder, die Rede. Glaubt man der US-Armee, war der Unteroffizier Robert Bales in den frühen Morgenstunden des 11. März Amok gelaufen. Der 38-Jährige ist inzwischen in den USA inhaftiert und muss sich vor einem Militärgericht verantworten.

Glaubt man dagegen dem Parlament in Kabul, war keineswegs ein Einzeltäter am Werk. "Alle Dorfbewohner, mit denen wir gesprochen haben, sagten, dass 15 bis 20 Mann da waren", sagte der Abgeordnete Nahim Lalai Hamidsai, der einer parlamentarischen Untersuchungskommission angehört, am Sonntag (18.03.2012) Medienvertretern. Zudem berichteten Bewohner eines nahegelegenen Dorfes der Nachrichtenagentur AP, sie seien Tage zuvor von US-Soldaten an einer Wand aufgestellt und gewarnt worden, dass sie und ihre Kinder für einen vorangegangen Bombenanschlag "bezahlen" würden.

Der mutmaßliche Amokschütze Robert Bales (l., Archivbild von 2011: AP)
Der mutmaßliche Amokschütze Robert Bales (l., Archivbild von 2011)Bild: DVIDS

"Wir nehmen alle Vorwürfe ernst und wir haben jeden aufgefordert, der Vorwürfe hat, sie uns wissen zu lassen", sagt Jimmie Cummings, Sprecher der US-Armee und der internationalen Schutztruppe ISAF in Afghanistan. "Derzeit läuft die Untersuchung und noch deutet alles auf einen einzelnen Schützen hin."

Über- und Untertreibungen

Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) ist klar, welche der offiziellen Quellen zuverlässig ist: keine. "Es gab in anderen Fällen Untersuchungen der afghanischen Regierung, die die Anzahl ziviler Opfer übertrieben haben und es gab zahlreiche Untersuchungen der ISAF, die sehr geringe Zahlen produziert haben", sagt Sam Zarifi, Afghanistan-Experte von AI. Die Menschenrechtler hatten reichlich Gelegenheit, damit Erfahrung zu sammeln: Seit fünf Jahren steigt die Anzahl ziviler Opfer nach UN-Angaben kontinuierlich. Waren es 2007 noch etwas mehr als 1500 Menschen, starben im vergangenen Jahr doppelt so viele. Für mehr als 77 Prozent davon waren Aufständische wie die Taliban verantwortlich, so die Zahlen der Vereinten Nationen.

Sam Zarifi von Amnesty International (Foto: Amnesty International/ Mark Allan)
Sam Zarifi von Amnesty InternationalBild: Amnesty International

Das Massaker von Kandahar ist nicht der erste Fall, in dem NATO-Soldaten in Afghanistan willkürlich Menschen getötet haben. Im November 2011 wurde der Rädelsführer des sogenannten Kill Teams in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte zusammen mit vier anderen US-Soldaten Zivilisten mit Gewehren und Granaten umgebracht und die Leichen verstümmelt. Berichten zufolge könnte er bei guter Führung nach achteinhalb Jahren wieder freikommen.

Tödliche Routine-Operationen

Derartige Gräueltaten seien die Ausnahme, sagt der amerikanische Politologe John Tirman, der ein Buch über, so der Untertitel, "das Schicksal der Zivilbevölkerung in Amerikas Kriegen" geschrieben hat. "Sehr viel mehr Menschen sterben während sogenannter Routine-Operationen wie Hausdurchsuchungen, Straßenkontrollen oder Luftangriffen." Die ISAF und die afghanische Armee sind zunehmend bemüht, dies zu vermeiden: 2008 wurden laut UN noch 838 Menschen von den beteiligten Armeen getötet, 2011 nur noch 207.

Doch wo verläuft die Grenze zwischen Gräueltaten und Routine-Operationen? Das Kriegsvölkerrecht nimmt zivile Opfer durchaus in Kauf. "Wenn Sie militärische Ziele angreifen, ist dies im Grundsatz nicht dadurch verboten, dass Sie Zivilisten gefährden oder töten", sagt Silja Vöneky, Völkerrechtlerin an der Universität Freiburg. "Ein Angriff ist nur dann verboten, wenn Sie dadurch Kollateralschäden in Bezug auf Zivilisten verursachen, die im Verhältnis zum militärischen Vorteil exzessiv sind." Die Frage sei heikel, da ein Vorteil gegen Menschenleben abgewogen werden müsse: "Wenn Sie eine wichtige Führungspersönlichkeit der Taliban durch einen Angriff töten können, wären möglicherweise mehr zivile Opfer als in anderen Fällen noch nicht exzessiv."

Wie schwierig diese Abwägung ist, zeigt der bislang einzige große Fall, bei dem die Bundeswehr für den Tod von Zivilisten verantwortlich war. Als die Taliban im September 2009 zwei Tanklastwagen entführten, fürchtete der Kommandeur des 15 Kilometer entfernten Bundeswehr-Lagers, die Laster könnten als rollende Bomben eingesetzt werden. Schließlich ließ er sie von amerikanischen Kampfjets bombardieren. Zu diesem Zeitpunkt steckten die Laster im Kundus-Fluss fest, umringt von Dorfbewohnern, die in der Hoffnung auf etwas Benzin gekommen waren. Bis zu 142 Menschen starben, die genaue Zahl ist umstritten. In der Folge des Angriffs mussten ein Minister, ein Staatsekretär und der Generalinspekteur der Bundeswehr zurücktreten; ein Verfahren gegen den verantwortlichen Kommandeur stellte die Bundesanwaltschaft 2010 ein.

Einer der zerstörten Tanklaster nach dem Luftangriff von Kundus (Foto: AP)
Einer der zerstörten Tanklaster nach dem Luftangriff von Kundus 2009Bild: dapd

Grobe Fahrlässigkeit?

Nach dem Kriegsvölkerrecht seien die Tanklaster ein zulässiges militärisches Ziel gewesen, sagt Silja Vöneky. "Die Frage ist, ob der Kommandeur davon ausgehen musste, dass die zivilen Opfer, die er verursacht, exzessiv im Verhältnis zum militärischen Vorteil waren - denn es zählt allein die Ex-ante-Prognose, also die Einschätzung vor dem Angriff", so die Professorin. "Ex-post, also im Nachhinein, ist die Bewertung eine ganz andere. Aber wir müssen annehmen, dass er von viel weniger Zivilisten vor Ort ausging."

Zwar glaubt auch Peter Derleder, Experte für Zivilrecht an der Universität Bremen, dass der zuständige Oberst nicht zwangsläufig vorsätzlich gehandelt hat. "Es liegt aber eine grobe Fahrlässigkeit vor", sagt Derleder. Gemeinsam mit einem Bremer Anwalt hat er deshalb die Bundesrepublik auf 100.000 Euro Schadenersatz für zwei betroffene Familien verklagt. Bis zu einem endgültigen Urteil dürften noch Jahre vergehen.

"Nicht willens oder in der Lage"

Dieser Fall wurde vergleichsweise gut untersucht. Insgesamt jedoch wirft Amnesty International den beteiligten Staaten vor, nur ungenügende Konsequenzen aus der Tötung von Zivilisten zu ziehen. "Weder die afghanische Justiz noch die Regierungen der Staaten, die ISAF-Kontingente stellten, zeigten sich willens oder in der Lage, die Verantwortlichkeiten zu klären und den Opfern eine Entschädigung zukommen zu lassen", heißt es im Jahresbericht 2011 mit Blick auf die dort dokumentierten Fälle.

Der Politologe Tirman wirft der US-Armee gar eine systematische Vertuschung vor: "Das Militär stellt es in der Regel so dar, als seien von den Einsätzen nur Aufständische betroffen und räumt es nur selten ein, wenn Zivilisten getötet wurden."

In Afghanistan sei dies allerdings nicht so einfach, sagt Sam Zarifi von AI. "Das wird in einem gewissen Grad dadurch gehemmt, dass es dort, wo die NATO operiert, auch Medien gibt – und dadurch, dass die Taliban ein Interesse daran haben, dass solche Angriffe bekannt werden." Dessen ungeachtet würden die meisten Fälle nicht hinreichend untersucht. Zafiri verweist als Beispiel auf den Tod zweier Brüder, die 2007 in Südafghanistan von Spezialkräften im Schlaf erschossen worden sein sollen. "Das Thema wurde von uns und von den Vereinten Nationen angesprochen und trotzdem gibt es auch fünf Jahre später absolut keine Rechenschaft, in welcher Form auch immer."

Bundeswehrsoldaten in Faisabad (Foto: AP)
Bundeswehrsoldaten in Faisabad (Archivbild von 2008)Bild: dapd

Im Fall des Massakers von Kandahar hofft Amnesty International auf klarere Aussagen von der afghanischen Parlamentskommission. "Wir warten ungeduldig auf Informationen darüber, welche Interviews geführt wurden und wie sie geführt wurden", sagt Zarifi. "Denn es gibt große Fragen, was genau passiert ist und ob tatsächlich nur ein Täter beteiligt war."