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"Blutende Wunde Europas"

Ute Schaeffer2. August 2003

Trotz immer neuer tschetschenischer Terroranschläge propagiert Moskau politische "Normalität" für die Region. Doch sind Menschenrechtsverletzungen, Elend und Terror "normal"?!

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Jüngstes Terrorziel: Das russische Militärkrankenhaus in MozdokBild: AP

Das Rezept der politischen Führung in Moskau bleibt unverändert: Nach außen - vor allem in Richtung westlicher Institutionen wie dem Europarat - wird die Rückkehr zur politischen Normalität simuliert. So ordnete Präsident Wladimir Putin erst kürzlich die Durchführung von Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien an. Diese sollen im Oktober 2003 stattfinden. Allerdings steht der Sieger bereits fest: Es ist Achmed Kadyrov, der Leiter der von Moskau eingesetzten Zivilverwaltung.

Fast gleichzeitig ruft Putin zur "Vernichtung tschetschenischer Terroristen" auf. Auch kritische Berichterstatter haben einen schweren Stand: Alichan Gulijew, ein auf den Kaukasus spezialisierter russischer Fernsehredakteur, ist unlängst in Moskau in seiner Wohnung von einem Unbekannten erschossen worden. Gulijew hatte nach unbestätigten Berichten von Interfax zahlreiche Reportagen und Berichte aus der abtrünnigen Kaukasus-Republik geliefert.

Menschenrechtsverletzungen und Friedenswille

Erst Mitte Juli 2003 hat der Europarat Russland schwerste Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorgeworfen. Folter und andere Formen von Misshandlungen durch russische Soldaten seien gängige Praxis. Dazu gehören Prügelstrafen, Elektroschocks und Erstickungsversuche. Wer mag angesichts solcher Methoden daran glauben, dass die von Russland organisierten Wahlen frei und fair verlaufen werden?

Auch der neue Tschetschenien-Beauftragte des Europarates, der Schweizer Andreas Gross, hält den Konflikt für gänzlich ungelöst. "Tschetschenien ist heute eine blutende Wunde für ganz Europa", sagt er. "Alle Beteiligten werden Konzessionen machen müssen." Die große Mehrheit der tschetschenischen Zivilbevölkerung wolle den Frieden, davon ist Gross überzeugt. Und er zeigt einen Weg auf, wie Frieden erreicht werden könnte. "Für die Tschetschenen muss man eine möglichst große Eigenständigkeit im Rahmen der Russischen Föderation erreichen", fordert der Experte.

Hoffnungslosigkeit in der jungen Generation

In den vergangenen Monaten haben tschetschenische Selbstmord-Attentäterinnen zahlreiche Anschläge verübt. Die Selbstmordattentäter und -täterinnen gehören allesamt zur jüngeren Generation in Tschetschenien, die durch den Krieg im Nordkaukasus alles verloren hat: Bildung, materielles Auskommen und soziale Stabilität, ihre Angehörigen und Freunde.

Diese Hoffnungslosigkeit steht im krassen Gegensatz zu dem vom Kreml verschriebenen Normalisierungs-Programm für die abtrünnige Republik. Im Frühjahr 2003 hat die tschetschenische Bevölkerung auf Anordnung Moskaus in einem Verfassungsreferendum über eine engere Anbindung an Russland abgestimmt. Das Ergebnis erinnerte an Sowjetzeiten: 96 Prozent der Bevölkerung stimmten dafür. Anschließend wurde eine Amnestie für einen Teil der tschetschenischen Rebellen verkündet, die Juristen und Nichtregierungsorganisationen in Russland für bloße Propaganda halten.

Mehr Attentate zu erwarten

Es ist zu erwarten, dass sich Terrorakte in Russland in den kommenden Monaten häufen werden - und dass andererseits Russland in Tschetschenien noch härter durchgreifen wird. Denn im Dezember 2003 sind in Russland Duma-Wahlen und 2004 wird der russische Präsident gewählt. Putin, der vor vier Jahren - als erfolgreicher Kriegsherr vermarktet - das Präsidentenamt eroberte, hat ein großes Interesse daran, dass der unberechenbare, kostspielige und immer weniger populäre Krisenherd Tschetschenien endlich Ruhe gibt. Doch die tschetschenischen Terrorkommandos ihrerseits werden alles daran setzen, diese Ruhe zu stören.