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Bosnien-Herzegowina: Was bleibt, ist "bestenfalls Polizeiaufgabe"

2. November 2006

Die deutschen Soldaten sollen schrittweise aus Bosnien-Herzegowina abgezogen werden, so Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung. Die Ansichten deutscher und bosnischer Experten darüber gehen auseinander.

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Ende des Bundeswehr-Einsatzes im GesprächBild: picture-alliance / dpa

Verteidigungsminister Jung vertritt die Ansicht, dass die Lage in Bosnien nach den am 1. Oktober abgehaltenen Wahlen stabiler sei. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, begrüßt die Ankündigung des Ministers, dass rund 850 Soldaten aus Bosnien-Herzegowina abgezogen würden. "Wir sind seit 1990 in Bosnien. Vorher waren wir in Kroatien. Der zivile Wiederaufbau hat Fortschritte gemacht", fasst Gertz zusammen. "Was dort übrig bleibt, ist bestenfalls eine Polizeiaufgabe, mit Sicherheit aber keine Aufgabe mehr für Militär." Er sei "ziemlich dankbar", dass diese Diskussion, endlich konkrete Ergebnisse zeige, fügte Gertz hinzu.

Offene Aufgaben

Der Balkanexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Franz-Lothar Altmann, meint dagegen, es sei noch verfrüht, die Bundeswehrtruppen zurückzuziehen. In diese Richtung würde zwar schon längst überlegt, aber dass diese Überlegungen gerade jetzt ausgesprochen würden, überrasche ein wenig, "vor allem angesichts der Tatsache, dass zwei unerledigte Aufgaben in Bosnien noch vor uns stehen: die Regierungsbildung und die Verabschiedung einer neuen Verfassung." Man sollte sich überlegen, ob man nicht diese beiden politischen Stabilisierungsaufgaben erst noch abwarte und danach mit einem stufenweisen Truppenabzug beginne, so Altmann.

Vakuum vermeiden

An den Truppenabzug wird auch der angekündigte Wandel der Rolle der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina geknüpft. Dabei handelt es sich vorrangig um die Aufhebung der Befugnisse des Hohen Repräsentanten. Haris Silajdzic, der bei den Oktober-Wahlen zum bosniakischen Mitglied der Präsidentschaft von Bosnien-Herzegowina gewählt wurde, vertritt ebenfalls die Ansicht, dass der Truppenabzug noch verfrüht sei. "Die Strategie eines allgemeinen Abzugs der internationalen Gemeinschaft und der Einzug Bosnien-Herzegowinas in euroatlantische Integrationen muss auf einander abgestimmt werden", fordert er. Es dürfe kein Vakuum entstehen. "Die Präsenz der internationalen Streitkräfte und natürlich die Befugnisse des Hohen Repräsentanten müssen noch eine gewisse Zeit beibehalten werden, weil Bosnien-Herzegowina noch nicht gefestigt ist und ebenso wenig den institutionellen Weg in die EU eingeschlagen hat", so Silajdzic.

Kleinere lokale Konflikte nicht ausgeschlossen

Bundesverteidigungsminister Jung zufolge ist die politische und Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina jedoch nach den Wahlen stabiler geworden. Altmann stimmt zwar darin mit dem Minister überein, weist indes darauf hin, dass es noch keine Beruhigung im politischen Umfeld gebe. "In militärischer Hinsicht, so meine ich, wird es jetzt keine größeren Probleme mehr geben", sagt er, "aber kleinere lokale Konflikte im Verlauf von Auseinandersetzungen könnten durchaus passieren." Der Rest der Bundeswehr solle vorsichtig abgezogen werden, "wenn wir das Gefühl haben, Bosnien ist auch politisch auf dem Stabilisierungsweg", sagt Balkanexperte Franz-Lothar Altmann.

Konflikte fürchtet auch Miodrag Zivanovic, Universitätsprofessor aus Banja Luka. "Ich glaube, dass wäre wirklich ein Problem, wenn die Militäreinheiten in größerer Zahl abgezogen würden." Die letzten Wahlen hätten gezeigt, dass gerade sehr nationalistische Parteien mit überzeugender Mehrheit gewonnen haben. "Wir befinden uns heute in einer morbiden Situation – sozusagen in einem Remake der 1990er Jahre. Daher meine ich, dass ein Rückzug nicht gut wäre", sagt Zivanovic. "Der Rückzug aus Bosnien kann nicht nur militärisch, sondern auch politisch zu dem einen oder anderen Konflikt führen", glaubt Zivanovic.

Präsenz der internationalen Gemeinschaft erwünscht

Der Bund der Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD), der bei den Oktober-Wahlen die meisten Stimmen in der Republika Srpska erhalten hat, ist dagegen der Ansicht, dass die Militärreform in Bosnien-Herzegowina erfolgreich durchgeführt wurde und daher eine Reduktion der internationalen Militärpräsenz gerechtfertigt sei. "Im Hinblick auf die Militärpräsenz unterstützen wir vollkommen die Einschätzung der internationalen Organisationen und die einzelner Länder", sagt Rajko Vasic, Generalsekretär der SNSD. "Wir meinen, dass die Zuständigkeiten an die bosnisch-herzegowinische Behörden übergehen müssen und die Politiker, Organisationen, Organe und Institutionen die Verantwortung für ihre Zukunft und für unmittelbare Entscheidungen übernehmen müssen."

Die Anwesenheit der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina sei allerdings weiterhin unerlässlich, allerdings ohne Weisungsbefugnisse. "Die Anwesenheit der internationalen Gemeinschaft und der europäischen Institutionen ist eine Art Korrekturinstanz für die äußerst komplizierten Verhältnisse, die in Bosnien-Herzegowina herrschen", so Vasic. Sie sei ein Garant für eine demokratische und normale Entwicklung der Institutionen, aber auch dazu da, die Verbindung nach Europa und die europäische Integration zu erleichtern.

Belma Fazlagic Sestic, Zorica Ilic
DW-RADIO/Bosnisch, 1.11..2006, Fokus Ost-Südost