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Nichts geht mehr auf Brüssels Straßen

Doris Pundy9. März 2016

Belgiens Hauptstadt Brüssel hat das Verkehrsaufkommen einer Mega-Metropole. Marode Autobahntunnel bringen die Stadt an den Rand eines Verkehrskollapses. Höchste Zeit für Pendler und Politiker umzudenken.

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Gesperrte Einfahrt vor dem Tunnel Montgomery (Foto: DW)
Bild: DW/D. Pundy

Wie düstere Schächte ziehen sie sich durch die Stadt mit ihren bedrückenden, tiefhängenden Betondecken. Die Fahrspuren sind eng, kaum beleuchtet und schlecht beschilderte Abfahrten erscheinen aus der Dunkelheit, ohne Warnung kreuzen sich plötzlich Fahrbahnen: Wer sich in den Autobahntunneln von Brüssel nicht auskennt, ist schnell verloren.

Akute Einsturzgefahr

Dabei sind die mehr als zehn Kilometer langen Tunnel die Hauptschlagadern des Stadtverkehrs. Jeden Tag strömen über 320.000 Pendler in die Stadt mit knapp einer Million Einwohnern. Die meisten nutzen für den Weg ins Zentrum einen der Tunnel.

Ende Januar aber kam es zum verkehrstechnischen Super-Gau, den Kritiker seit Jahren vorhergesagt haben: Tunnel Stephanie, die Durchfahrttrasse von Süden nach Norden, musste aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Noch schlimmer sieht es im Tunnel Montgomery aus: Zuerst brachen nur einzelne Betonbrocken weg, dann sahen die Experten, dass sich Teile der Deckenkonstruktion schon um acht Zentimeter gesenkt hatte - akute Einsturzgefahr!

Brüssel wollte Weltstadt sein

Angefangen hatte die Misere in den 1950er Jahren, erzählt Michel Hubert, Professor für Stadtplanung an der Universität Saint-Louise in Brüssel. Damals wurden für die Weltausstellung 1958 die ersten Autobahntunnel durch die Stadt geschlagen. Die Besucher der "Expo" sollten ohne Umweg zum Glanzstück der Schau, dem Atomium im Westen Brüssels gelangen können. Gleichzeitig wollte man alten Prunkstraßen neuen Glanz versschaffen und verbannte Autoverkehr teilweise in den Untergrund.

"Verkehrssysteme, wie sie damals in den USA gebaut wurden, galten als fortschrittlich und wurden von Politik und Öffentlichkeit enthusiastisch willkommen geheißen", sagt Prof. Hubert. Der gut etablierte öffentliche Nahverkehr geriet ins Hintertreffen.

"Diese Tunnel sollten für die Ewigkeit gebaut sein", erklärt Michel Hubert. "Aber niemand hatte erwartet, dass Tunnel so wartungsintensiv sind." Viel zu wenig Geld floss in die Instandhaltung. "Solange es um prestigeträchtige Neubauten ging, waren alle Politiker dabei. Instandhaltung dagegen fand niemand mehr sexy", spottet Verkehrsexperte Hubert.

Hinzu kam eine Stadtplanung, die den Trend zum Pendeln noch verstärkte: Alte Wohnviertel im Stadtzentrum wurden durch Bürotürme ersetzt und die Menschen an den Stadtrand umgesiedelt. Für die Zufahrt zum Arbeitsplatz in der Innenstadt wurden weitere Tunnel gebaut.

Porträt Universitätsprofessor Michel Hubert (Foto: DW)
"Zu wenig Geld fließt in die Instandhaltung": Stadtplaner Michel HubertBild: DW/D. Pundy

Kein politischer Wille

Jahrzehnte später will niemand für das Desaster verantwortlich sein. Eine Untersuchungskommission im Brüsseler Stadtparlament soll Versäumnisse aufarbeiten. Bei einer Anhörung schoben sich aber amtierende und ehemalige Stadtminister gegenseitig die Schuld zu.
"Wir brauchen eine nüchterne Debatte, die sich auf Lösungen konzentriert", fordert dagegen Verkehrsaktivist Jeroen Verhoeven von der Bürgerplattform BRAL. "Das Problem mit den Tunnelrenovierungen ist, dass hier unheimlich viel Geld notwendig ist, nur um den Status Quo zu erhalten. Aber das wäre noch keine Lösung für die größeren Probleme. Und so viele öffentliche Mittel einfach nur in eine Renovierung zu schaufeln, verkauft sich vor den Wählern schlecht, zumal das Budget sehr knapp ist", erklärt Verhoeven.

Dass in der "Hauptstadt Europas" das Budget so knapp ist hat einen einfachen Grund: "Hier in Belgien zahlen wir Steuern da, wo wir wohnen, aber nicht wo wir arbeiten", erklärt Experte Verhoeven. "Und weil alle, die es sich leisten können, in die schönen Vororte ziehen, leben im Stadtzentrum nur Menschen mit geringem Einkommen."

"Negativspirale verlassen"

Freitagnachmittag, Richtung stadtauswärts: In vier Spuren schieben sich die Autos Richtung Süden, wo auch die Villenvororte liegen. Immer wieder gerät alles ins Stocken bis die Kolonne schließlich den Kreisverkehr, mit der Einfahrt zum gesperrten Tunnel Stephanie, erreicht. Dort bricht der Verkehr endgültig zusammen.

"Wir brauchen Sofortmaßnahmen und müssen diese Negativspirale endlich verlassen", fordert Professor Hubert. "Unsere Politiker müssen endlich realistische Vorschläge machen, die sich rasch und mit wenig Geld umsetzen lassen." Aktivist Verhoeven schlagt dazu vor: "Am einfachsten und günstigsten wäre es Buslinien mit kurzen Intervallen auf eigenen Busspuren aus den Vororten bis ins Stadtzentrum einzurichten". Das würde rasch Abhilfe schaffen, während Großprojekte, wie ein funktionierendes Schnellbahnnetz, aufgrund des politischen Dauerstreits und des knappen Budgets noch lange auf sich warten lassen werden.

Porträt Mobilitätsaktivist Jeroen Verhoeven (Foto: DW)
Plädiert für eine nüchterne Debatte: Mobilitätsaktivist Jeroen VerhoevenBild: DW/D. Pundy
Brüssel Einfahrt Autotunnel Leopold II (Foto: DW)
Einfahrt des Autotunnels Leopold II.Bild: DW/D. Pundy