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Politik

"Braindrain" aus Bulgarien und Rumänien

Darya Popova-Witzel | Lavinia Pitu
1. Januar 2017

Als Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2007 EU-Mitglieder wurden, war die Freude groß. Doch danach haben noch mehr Bürger die beiden Länder verlassen als zuvor - nicht nur aus materiellen Gründen.

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Untersuchung Arzt Patient
Bild: picture alliance/dpa/S. Stache

Ihr neues Leben begann 2009 - zwei Jahre nach dem EU-Beitritt ihrer Heimat. Die rumänische Ärztin Elena Ioana Braicu ließ sich damals von der größten Klinik Deutschlands, der Berliner Charité, anwerben. "Ich hatte einen guten Lebensstandard in Rumänien. Aber für mich war es wichtig, mir selbst zu beweisen, dass ich in einem besser funktionierenden System wieder von Null anfangen kann", sagt Braicu im DW-Gespräch. Die Ärztin kann sich nicht vorstellen, in ihre Heimat zurückzukehren. "Ich könnte mich nicht wieder ins rumänische Gesundheitssystem einarbeiten. Man arbeitet in Deutschland viel mehr, hat aber auch bessere Aufstiegschancen."

Auf bessere Aufstiegschancen hoffte auch Anna Dimitrova, als sie vor 20 Jahren ausgewandert ist. Die 40-jährige Bulgarin ist eine der wenigen Top-Managerinnen in Deutschland mit Migrationshintergrund: "Nach der Wende war es für mich ziemlich klar, dass ich im Ausland studieren werde. Ich wollte Betriebswirtschaft studieren und aus erster Hand lernen, wie Marktwirtschaft funktioniert." 

Dr. Elena Ioana Braicu
Die rumänische Ärztin Elena Ioana Braicu arbeitet in BerlinBild: Braicu

Von Anfang an verfolgt sie ihr Ziel "mit viel Fleiß und einem starkem Willen". Und wird belohnt: Die Bulgarin ist die Beste ihres Jahrgangs an der Universität Erlangen-Nürnberg. Direkt nach dem Studium wird sie bei Mannesmann angestellt, heute sitzt sie in der Geschäftsführung des Konzerns, der jetzt Vodafone heißt.

Deutschland Geschäftsführerin für Strategie und Digitales bei Vodafone Anna Dimitrova
Anna Dimitrova ist Geschäftsführerin für Strategie und Digitales bei Vodafone Bild: Vodafone/A. Vejnovic

Deutscher Arbeitsmarkt profitiert von dieser Zuwanderung

Tausende junge Bulgaren schlagen den Weg ein, den die Managerin Anna Dimitrova schon hinter sich hat. Nach Angaben von Statista lebten im Jahr 2015 mehr als 225.000 Bulgaren in Deutschland. Viele von ihnen sind überdurchschnittlich gut ausgebildet. Während der deutsche Arbeitsmarkt von dieser Zuwanderung profitiert, fällt die Bilanz für Bulgarien eher negativ aus: Die Bulgarische Wissenschaftsakademie hat ausgerechnet, dass in fünf bis zehn Jahren etwa 400.000 qualifizierte Arbeitskräfte fehlen werden.

Ähnliche Probleme plagen auch Rumänien, das zusammen mit Bulgarien 2007 der EU beigetreten ist. Zwar profitieren beide Länder von den Rücküberweisungen der Auswanderer an ihre Familien, aber der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal wird immer deutlicher. Am stärksten betroffen ist der medizinische Sektor. In Rumänien etwa verließen rund 43.000 Ärzte und Apotheker das Land seit dem EU-Beitritt vor zehn Jahren. Allein in Deutschland arbeiten etwa 5.000 rumänische Mediziner.

"Braindrain" für die einen, "brain gain" für die anderen

Der junge rumänische Zahnarzt Kostas Ifandopol fasste vor drei Jahren den Entschluss, nach Berlin auszuwandern. Bei ihm waren es vor allem finanzielle Gründe, die ihn zu diesem Schritt bewegt haben. Nach seinem Studium in Bukarest arbeitete er ein Jahr lang als Zahnarzt in Rumänien. Doch bald wurde ihm klar, dass er in seiner Heimat den Traum von einer eigenen Praxis nicht verwirklichen kann. "Langfristig habe ich in Deutschland viel bessere Chancen. Hier kann ich ein Darlehen von der Bank günstig bekommen und muss dafür nicht 40, sondern nur 15 bis 20 Jahre arbeiten", sagt Ifandopol im DW-Gespräch. Zurzeit ist er in einer Berliner Zahnarztpraxis angestellt: "Hier verdiene ich ungefähr zehnmal mehr als in einer Praxis in Rumänien."

Diesen Weg gehen auch immer mehr bulgarische Ärzte. Das Land mit etwa sieben Millionen Einwohnern hat heute gerade mal 28.000 Ärzte. Vor sieben Jahren waren es noch 35.000. Während Bulgarien und Rumänien deshalb sorgenvoll in die Zukunft blicken, profitieren deutsche Kliniken von der Zuwanderung osteuropäischer Fachkräfte: "Braindrain" für die einen, "brain gain" für die anderen.

Kostas Ifandopol: Bessere Chancen in Deutschland

"Ohne die Ärzte aus dem östlichen Ausland gäbe es in bestimmten Regionen Deutschlands gar kein ärztliches Personal", sagt Jalid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie an der Charité. Der in Berlin geborene Sohn einer marokkanischen Flüchtlingsfamilie setzt auf Multikulturalität in der Charité: "Mein Oberarzt ist aus Bulgarien, Frau Braicu kommt aus Rumänien, und wir haben noch eine Assistentin aus Bulgarien. Alle diese Kollegen haben eine gute Ausbildung, sind sprachbegabt und erlernen sehr schnell das hiesige System."

"Sehr negative Auswirkungen"

Laut einer aktuellen Studie der Vereinten Nationen arbeiten etwa 3,4 Millionen Rumänen im Ausland. Auch die Bevölkerung Bulgariens ist in den letzten Jahrzehnten stark geschrumpft: Seit der politischen Wende von 1989 haben mehr als eine Million Bulgaren ihr Land verlassen. "Diese Abwanderung hat sehr negative Auswirkungen auf die bulgarische Wirtschaft, denn bei vielen der Auswanderer handelt es sich um hochqualifizierte Spezialisten", sagt Mitko Vassilev, Vorsitzender der Deutsch-Bulgarischen Industrie- und Handelskammer. Immer häufiger, so Vassilev, beklagten sich deutsche Investoren über den Mangel an gut ausgebildetem Fachpersonal in Bulgarien.

Aus der Migrationsforschung wisse man, "dass es nicht per se schlecht ist, wenn besser qualifizierte Menschen ihre Länder verlassen", sagt Herbert Brücker, Migrations- und Arbeitsmarktforscher am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). "Denn wenn man mehr in Bildung investiert, muss ja die Humankapitalausstattung der Länder nicht unbedingt sinken." Außerdem würden viele Menschen heute nur einige Jahre im Ausland verbringen und dann wieder zurückkehren. Das heiße aber nicht, dass es keine Probleme gebe - gerade im medizinischen Sektor: "In diesem Bereich hat die Auswanderung durchaus schädliche Konsequenzen."

Rückkehr nach Bulgarien - mit deutschem Ehemann

Tanya Schnell, Bulgarien, DW-Reportage
Tanya Schnell: "Ich kam zurück, weil ich Bulgarien liebe" Bild: privat

Die Abwanderung, nicht nur von Ärzten, wird Bulgarien und Rumänien noch lange beschäftigen: Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass 43 Prozent der Bulgaren und 40 Prozent der Rumänen vorhaben, ihr Land zu verlassen. Doch Geschichten wie die der Bulgarin Tanya Schnell machen auch Hoffnung: Nach einem erfolgreichen Studium in Deutschland kehrte sie in die Heimat zurück - und nahm ihren deutschen Ehemann gleich mit. Im ärmsten EU-Land haben sie es geschafft, eine Existenz aufzubauen. "Ich kam zurück, weil ich Bulgarien liebe. Und weil ich hier etwas bewegen möchte", sagt Tanya Schnell. Die zweifache Mutter hat sich dem Umweltschutz gewidmet - und bereut ihre Entscheidung für das Heimatland nicht: "In Bulgarien fehlen mir zwar die deutschen Bibliotheken, die Fahrradwege, die Kinderspielplätze, die gute medizinische Versorgung. Aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich hier nützlicher bin, dass ich viel mehr bewegen kann, als in Deutschland - zum Beispiel im Umweltschutz. Das gibt mir Kraft."

Porträt einer Frau mit langen braunen Haaren, im Hintergrund sind die Dächer einer Stadt, Kirchtürme usw. zu sehen
Lavinia Pitu Video-Redakteurin, Investigativ-Journalistin, TV-Moderatorin