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Höheres Krebsrisiko durch Atomkraft

Gero Rueter30. Mai 2012

In der Nähe von Atomkraftwerken werden weniger Mädchen geboren als Jungen, und Kinder erkranken häufiger an Krebs. Hängt das vielleicht mit dem regelmäßigen Wechsel von Brennstäben zusammen?

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Das Kernkraftwerk Krümmel in der Stadt Geesthacht bei Hamburg. (Copyright: Annette Feindt, Elterninitiative Geesthacht)
Bild: Annette Feindt/Elterninitiative Geesthacht

Raffael Röther starb im Alter von drei Jahren an Leukämie. Er lebte mit seiner Familie nur vier Kilometer vom Süddeutschen Atomkraftwerk Gundremmingen entfernt. Es ist das größte deutsche Atomkraftwerk und soll nach dem Atomausstiegsbeschluss der  Bundesregierung noch bis Ende 2021 Strom produzieren. Ob die radioaktive Strahlung aus dem Kraftwerk für Raffaels Tod verantwortlich ist, kann nicht eindeutig bewiesen werden. Verschiedene Forschungen zeigen jedoch, dass kleine Kinder in der Nähe von Atomkraftwerken doppelt so häufig an Leukämie erkranken wie im Durchschnitt der Bevölkerung.

Auf dem Foto ist Raffael Röther. Der Junge starb am 21.6.2006 im Alter von 3 Jahren an Leukämie. Raffael lebte mit seiner Familie nur 4 Kilometer vom größten Deutschen Atomkraftwerk im süddeutschen Grundremmingen entfernt. Das Kraftwerk ist auch weiterhin am Netz. Auch Raffaels Mutter wuchs in der Nähe des Atomkraftwerks aufgewachsen und lebte während der Schwangerschaft nur 4 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Der Vater stammt aus einem Nachbardorf. Ob die Radioaktive Strahlung aus dem Kraftwerk verantwortlich für Raffaels Tod ist, kann bisher nicht eindeutig behauptet werden. Doch umfangreiche Studien belegen, dass Kinder in der Nähe von Atomkraftwerken ein doppelt so hohes Risiko haben an Leukämie zu erkranken. Copyright: Armin Röther
Raffael Röther lebte in der Nähe vom AKW Gundremmingen und starb an LeukämieBild: Armin Röther

Der Zusammenhang zwischen Radioaktivität und Leukämie ist bereits seit Jahren bekannt. Jetzt haben Umwelt- und Gesundheitsforscher vom Helmholtz Zentrum in München allerdings auch Hinweise darauf gefunden, dass die Strahlung von Atomkraftanlagen möglicherweise direkt in die Genetik eingreift. Sie nahmen Deutsche Geburtsregister genauer unter die Lupe und stellten fest, dass in einem 40 Kilometer-Radius um Atomanlagen fast ein Prozent weniger Mädchen geboren werden als anderswo.

"Bis zu 20.000 weniger Mädchen"

Biomathematiker Hagen Scherb vom Helmholtz Zentrum in München (Foto: Scherb)
Biomathematiker Scherb fand eine GeschlechterverschiebungBild: Scherb

Biomathematiker Dr. Hagen Scherb führte die Studie durch und erklärte gegenüber der Deutschen Welle, dass durch die zivile Nutzung der Atomkraft in Deutschland und der Schweiz bisher zwischen 10.000 und 20.000 Mädchen "nicht geboren" worden seien. Unklar ist bislang allerdings, ob durch den Einfluss von Strahlung dafür mehr Jungen zur Welt kommen.

Auch die Erkenntnis, dass sich das Geschlechterverhältnis durch Radioaktivität verschiebt, ist nicht völlig neu. Der amerikanische Genetiker Hermann Joseph Muller erhielt für diese Entdeckung 1946 den Nobelpreis. Wissenschaftler stellten diese Geschlechterverschiebung auch nach Atombombenabwürfen und nach der Katastrophe von Tschernobyl fest. 

Besonders niedrig war die Rate weiblicher Geburten in der Nähe des deutschen Atommüll-Zwischenlagers Gorleben, so die Untersuchungsergebnisse von Forscher Scherb. Dort kamen zwischen 1996 und 2010 über dreihundert Mädchen weniger zur Welt, als dies bei einer normalen Geburtenrate statistisch zu erwarten gewesen wäre. Nach Angaben von Scherb sind vor allem Anlagen problematisch, “wo mehr oder weniger offen mit radioaktiven Materialen hantiert wird.“ Der Biomathematiker stellte zudem auch in der Nähe eines Atomkraftwerks, das abgebaut wurde, eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses fest.

Statistische Belege - aber offene Fragen

Die bisher weltweit aufwändigste und umfassendste Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und der Nähe von Atomkraftwerken stammt aus dem Jahr 2007 und betrachtet Erkrankungen in Deutschland. Die Studie wurde vom Deutschen Kinderkrebsregister an der Universität Mainz erstellt - im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz, einer Unterbehörde des Bundesumweltministeriums.

Nach Angaben der Wissenschaftler, die Daten von 1980 bis 2003 ausgewertet hatten, waren in diesem Zeitraum zwischen 120 und 275 Kleinkinder nur deshalb in Deutschland an Krebs erkrankt, weil sie in der Nähe eines Atomkraftwerks wohnten. Vor allem gefährdet sind demzufolge Kleinkinder unter fünf Jahren, die im Umkreis von bis zu fünf Kilometern vom Atomkraftwerk entfernt leben.

Der Physiker und Strahlenforscher Alfred Körblein begleitete die Kinderkrebsstudie und wertet seit Jahrzehnten viele weitere ähnliche Studien aus, darunter auch jüngere aus Frankreich, der Schweiz und Großbritannien. Im Interview  mit der Deutschen Welle erklärte Körblein, dass alle Studien den Verdacht bestätigten: das Leukämie-Risiko von Kleinkindern in der Nähe von Atomkraftwerken steige.

Dr. Alfred Körblein. Er ist Physiker und Strahlenforscher und arbeitete, für das Umweltinstitut München (Foto: Körblein)
Körblein hat den Brennstoffwechsel im VerdachtBild: privat

Die bisherigen Untersuchungen warfen aber auch zahlreiche Fragen auf. So konnten Strahlenexperten den Zusammenhang zwischen der beobachteten Häufung von Krebsfällen  und dem Betrieb von Atomanlagen nicht kausal erklären. Nach einer Einschätzung der deutschen Strahlenschutzkommission müssten die radioaktiven Emissionen aus den Atomkraftwerken eigentlich rund 1000 Mal höher sein, um einen solchen  Zusammenhang überhaupt herstellen und erklären zu können.

Wechsel von Brennelementen könnte Ursache sein

Strahlenforscher Körblein suchte deshalb weiter. Er stellte fest, dass beim Wechseln der Brennelemente ein Großteil der radioaktiven Jahresemissionen durch die Schornsteine der Atomkraftwerke kurzfristig freigesetzt wird. Trifft Radioaktivität auf einen strahlensensiblen Körper, zum Beispiel auf einen Embryo, steigt das Krebsrisiko an. Nach Einschätzung von Körblein könnte diese punktuell hohe Strahlenbelastung, die gerade im Umkreis der Abgasfahne auftritt, eine logische Erklärung für die Häufung der Leukämiefälle sein.

Auch der Mediziner und Strahlenbiologe Edmund Lengfelder sieht  diesen Zusammenhang. Er vergleicht die kurzfristige Strahlenbelastung mit dem Beispiel von Alkohol: "Wenn ein Erwachsener eine Flasche Schnaps über einen Zeitraum von 2 Monaten trinkt, dann ist dies unproblematisch, wenn er dies an einem Tag trinkt, dann hat er einen Rausch. Bei einem Kind würde diese Dosis an einem Tag möglicherweise tödlich sein."

Das Atomkraftwerk Gundremmingen (Foto:(c) dpa - Bildfunk)
Das Atomkraftwerk Gundremmingen ist das größte AKW in Deutschland und soll noch bis 2021 in Betrieb bleiben.Bild: picture-alliance/dpa

Die internationale Ärzteorganisation zur Verhinderung des Atomkrieges, IPPNW, fordert deshalb auch eine Verschärfung der Strahlenschutzstandards. Sie will, dass sich der Strahlenschutz nicht mehr an einem gesunden, jungen Mann orientiert, sondern an besonders sensiblen Gruppen wie Frauen, Kinder und Embryonen.

Forschungsbedarf, aber bisher keine Konsequenzen

Die Deutsche Welle fragte beim deutschen Atomforum und beim Bundesamt für Strahlenschutz nach, welche Konsequenzen sie auf Grund dieser Studien für nötig hielten. Die Pressestellen betonten, dass sie die Erkenntnisse ernst nehme und auch weitere Forschung unterstützen, doch einen Anlass vorsorglich aktiv zu werden sehen sie bisher nicht.

Die Eltern von Raffael leben mit den Geschwistern des verstorbenen Jungen weiterhin in der Nachbarschaft  des Atomkraftwerks - immer im Hinterkopf, dass das Kraftwerk noch einige Jahre in Betrieb sein wird und mögliche Gesundheitsrisiken bleiben.