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Nanni Moretti

Jochen Kürten24. Mai 2012

Die erste deutschsprachige Monografie über den diesjährigen Jurypräsidenten der Filmfestspiele von Cannes ist gerade erschienen. Sie stellt Nanni Moretti als Regisseur zwischen Gesellschaftskritik und Poesie vor.

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Nanni Moretti (Foto: Stuart Wilson/Getty Images For The BFI)
Bild: Getty Images

In Cannes war Nanni Moretti in den letzten Tagen der Herr der Jury. Der italienische Regisseur saß einem exquisitem Gremium aus Schauspielern, Regisseuren und Modemachern vor, dass zu entscheiden hatte über die Goldene Palme. Den wichtigsten Festivalpreis der Welt hatte Moretti 2001 für seinen Film "Das Zimmer meines Sohnes" selbst schon einmal erhalten, dazu 1994 den Regie-Preis für "Liebes Tagebuch". Damit gelang dem Italiener damals der Durchbruch – zumindest, was die internationale Wahrnehmung betraf.

Engagierter Verfechter von Bürgerrechten

Denn schon zuvor war Moretti in seiner Heimat eine bekannte Regiegröße, "Liebes Tagebuch“ war sein siebter Spielfilm, 1976 hatte er mit "Ich bin ein Autarkis" sein Debüt gegeben. Heute gilt er als einer der bekanntesten Regisseure seines Landes, darüber hinaus als intellektueller Kopf des italienischen Kinos, als engagierter Verfechter von Bürgerrechten (in der Ära Berlusconi). "Habemus Papam", sein bisher letzter Film, der Michel Piccoli als Kardinal und gewählter Papst auf der Flucht vor der Verantwortung zeigt, ist sein bisher letzter Film, der vor kurzem noch in den deutschen Kinos zu sehen war.

Charlotte Lorbers Buch über Nanni Moretti füllt also eine Lücke. In der Einführung "Die Filme des Nanni Moretti – Erfahrung und Inszenierung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit" weist sie auf diesen Umstand hin, "muss man (doch) im deutschsprachigen Raum nach wie vor auf Magister- und Diplomarbeiten sowie einzelne Fachaufsätze zurückgreifen, will man sich näher mit einem der wichtigsten Filmemacher der letzten drei Jahrzehnte auseinander setzen."

Nanni Moretti (Foto:David Azia, File/AP/dapd)
Nanni MorettiBild: dapd

Wissenschaftlicher Ansatz

Auch ihr Buch ist im Rahmen eines Universitätsstudiums entstanden und geht auf eine Dissertation zurück. Die Autorin nimmt für sich in Anspruch, der "Gefahr einer allzu spezialisierten Untersuchung, die elementare Charakteristika von Morettis Kino unterschlagen muss", durch die "gewählte Interpretationsperspektive" aus dem Weg gegangen zu sein. Das muss man nicht so sehen. Lorbers Ansatz ist wissenschaftlich – mit all den damit zusammenhängenden Vor- und Nachteilen.

Eben jene "Interpretationsperspektive", die Begriffe "Raum", "Zeit" und auch "Bewegung", wird recht schematisch auf die Filme Morettis angelegt. Lorber stützt sich dabei auf die These eines italienischen Filmwissenschaftlers: "An der Positionierung der Figuren innerhalb der filmisch konstruierten Zeit- und Räumlichkeitsverhältnisse lässt sich die Beziehung zwischen Subjekt und Welt ablesen, mithin die Befindlichkeit einer Gesellschaft." Das kann man so ausdrücken. Und man kann sich Morettis Werk auch so – durchaus mit Gewinn – nähern.

Auf der Suche nach Glück...

Doch steht der recht theoretische Ansatz einer eher "sinnlich-emotionalen" Annäherung des Werkes Morettis entgegen. "Da Raumzeitliches besonders in Form von Bewegung zum Ausdruck kommt", schreibt die Autorin, sei das "Motiv der Reise für Morettis Filme von wesentlicher Bedeutung: Ortsveränderungen, Grenzüberschreitungen, Reisen im weitesten Sinne auf der Suche nach Glück, die mentalen Veränderungen und Erkenntnisgewinne mit sich bringen, aber auch einfach nur Flucht vor der Realität sein können, spielen in allen Filmen eine Rolle.“ Man muss sich auf diesen Duktus der Autorin einlassen. Sehr detailreich analysiert sie Film für Film, stellt die Bedeutung von Raum und Zeit in den einzelnen Arbeiten in den Vordergrund. Die Reaktion der heimischen Kritik wird beschrieben, Diskussionen, die Morettis Filme in Italien ausgelöst haben, aufbereitet.

Szene aus dem Film Liebes Tagebuch (Foto: Mary Evans Picture Library)
Mit der Vespa durch Rom: Philosophie auf italienisch...Bild: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Fast 400 eng beschriebene Seiten lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich hier jemand sehr ernst- und gewissenhaft mit ihrem Sujet befasst hat. Man erfährt viel über einzelne Motive und Handlungsstränge der Filme, über die Verwurzelung des Regisseurs innerhalb der italienischen Gesellschaft, über Leitmotive, wie dieses: "Auf der Ebene des Zeitlichen fällt insbesondere der Konflikt von Infantilität versus erwachsene Reife auf, in welchen sowohl die Hauptfigur als auch die italienische Gesellschaft im ganzen verstrickt ist."

Ikone des modernen Kinos

Charlotte Lorbers Buch füllt so tatsächlich eine Lücke. Erstmals kann man sich in Deutschland mit diesem wichtigen europäischen Filmemacher auseinandersetzen. Man sollte sich auf jeden Fall aber zunächst einmal seine Filme anschauen – was beim Frühwerk – mangels DVD-Angebot - kaum zu schaffen sein dürfte. Der Anblick des auf seiner Vespa hin- und herschwingenden Regisseurs und Hauptdarstellers Nanni Morettis im Film "Liebes Tagebuch" ist inzwischen zu einer Ikone des modernen europäischen Autorenkinos geworden. Etwas mehr von diesem "Zauber" hätte dem Buch gut getan.

Charlotte Lorber: Die Filme von Nanni Moretti - Erfahrung und Inszenierung von Räumlichkiet und Zeitlichkeit, Schüren Verlag 2012, 392 Seiten, ISBN 978 3 89472 737 6.