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Bulgarien: "Der Arme ist der positive Held"

31. August 2006

16 Jahre nach der Wende sehen viele Bulgaren in der Armut ein Zeichen für Tugend. Wohlhabenden wird nachgesagt, sich auf Kosten anderer bereichert zu haben. Das ist ein Ergebnis einer soziologischen Studie in Sofia.

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Armer Mann reich an Tugenden?Bild: AP

Was unterscheidet die heutige bulgarische Gesellschaft von den westeuropäischen Gesellschaften? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer soziologischen Untersuchung in Bulgarien. "Der Arme ist der positive Held der heutigen bulgarischen Gesellschaft" - so lautet eines der Hauptergebnisse der Umfrage, die von der bulgarischen Agentur "Mediana" im Mai dieses Jahres mit 1.000 Bulgarinnen und Bulgaren durchgeführt wurde.

Wie die Bulgaren die Armut sehen - dies ist einer der charakteristischsten Unterschiede zwischen der bulgarischen und den westlichen Gesellschaften, sagt der Soziologe Koljo Kolev von der Agentur "Mediana": "Im Unterschied zu den traditionellen Gesellschaften im Westen - in denen die Armut, die Arbeitslosigkeit, die schlechte materielle Lage eher versteckt werden, da sie den erfolglosen, den unfähigen, den unqualifizierten Menschen verraten, der man nicht sein möchte - wird in Bulgarien die Armut zur Schau getragen."

Bei der Meinungsumfrage kam nämlich heraus, dass die meisten Bulgaren Armut als Beweis dafür betrachten, dass man ehrlich und gut ist, dass man nicht zu denen gehört, die sich bereichern, die den Staat bestohlen haben.

Wohlstand als Makel

"Der Arme ist der positive Held der neuen Zeit, so wie er es in der Vergangenheit, in der Zeit des Sozialismus, des Totalitarismus war", sagt Soziologe Kolev. "Das klingt seltsam, wenn man sich vor Augen hält, dass wir eigentlich engagierte, ehrgeizige Menschen mit Eigeninitiative und neuen Ideen als Voraussetzung für den Fortschritt der Gesellschaft betrachten. Diese Menschen strengen sich an, weil sie Wohlstand wollen. Seltsamerweise werden gerade sie heftig von denjenigen kritisiert, die keinen Ehrgeiz und keine Ideen haben, die 'sozialistisch' arbeiten und 'kapitalistisch' konsumieren wollen."

60 Prozent der Armen fordern, dass die Reichen ins Gefängnis gesteckt werden sollten, so ein weiteres Ergebnis der Umfrage. Verlangt wird auch, dass Reiche mit hohen Steuern belastet werden sollten und ihr Einkommen den anderen angeglichen werden sollte. Nur zehn Prozent der Befragten teilen diesen Standpunkt nicht.

In der postkommunistischen Gesellschaft Bulgariens ist die Vorstellung weit verbreitet, dass die Armen eigentlich die ehrlichen, tüchtigen und guten Menschen sind - im Unterschied zu denen, die reich sind und damit als Mafiosi und Betrüger gelten.

Folgen des Sozialismus

Verhält es sich wirklich so? Sind die vermeintlichen Übel der Transformation und die vermeintliche Geldgier der Wohlhabenden tatsächlich der Grund für die Armut der Armen? Der bulgarische Soziologe Koljo Kolev unterscheidet zwei Typen von Menschen in der postkommunistischen bulgarischen Gesellschaft: " Das sind diejenigen, die ernsthaft arbeiten, die sich in die Aufgaben hineinknien, die lernen und das Leben besser gestalten wollen. Und diejenigen, die die Arbeit einfach stört, die ihre acht Stunden am Arbeitsplatz ohne Mühe hinter sich bringen und keine Verantwortung tragen wollen."

Letztere bezeichnet Kolev als "sozialistische Arbeiter", da sie den klassischen Werktätigen im Sozialismus entsprechen, die arm waren. 70 Prozent dieser "sozialistischen Arbeiter" gehörten auch in der heutigen bulgarischen Gesellschaft zu den Armen. Ihnen gegenüber stünden die "kapitalistischen Arbeiter": Sie wollten Verantwortung übernehmen, mit neuen Ideen an ihre Aufgaben herangehen. Sie scheuten sich nicht, 10, 12 oder 14 Stunden, auch sonntags, zu arbeiten. 80 Prozent dieser "kapitalistischen Arbeiter" gehe es heute materiell gut, sie seien als reich einzustufen, so Kolev.

Trendwende in Sicht?

Der soziologischen Untersuchung zufolge stellen die so genannten "sozialistischen" Arbeiter die Mehrheit dar: 43 Prozent der Bulgaren gehören dieser Gruppe an. Ihnen gegenüber steht der Anteil der so genannten "kapitalistischen" Arbeit mit 36 Prozent. Kolev betont allerdings, dass immer mehr junge Menschen "kapitalistisch" orientiert seien. Sie verließen sich nicht auf den Staat, sie fühlten sich für den eigenen Wohlstand verantwortlich und seien bereit, dafür hart zu arbeiten. In 10 bis 15 Jahren könne die Einstellung zur Arbeit und damit auch zu Armut und Reichtum wesentlich anders sein, meint der bulgarische Soziologe optimistisch.

Roumiana Taslakowa
DW-RADIO/Bulgarisch, 28.8.2006, Fokus Ost-Südost