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Bundestag alarmiert von Expertenbericht

Bernd Gräßler17. Oktober 2012

Antijüdische Straftaten gehen überwiegend auf das Konto von Neonazis, aber antisemitische Ressentiments gibt es bei jedem fünften Deutschen. Das Parlament fordert Konsequenzen aus einem Expertenbericht.

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Aufgeschlagenes Exemplar des Expertenberichts zum Antisemitismus in Deutschland Foto: Stephanie Pilick dpa/lbn
Bild: picture-alliance/dpa

Er sei keineswegs beruhigt, dass die Anzahl antisemitischer Straftaten laut Statistik leicht gesunken ist, versicherte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zum Beginn einer einstündigen Bundestagsdebatte, die sich mit Antisemitismus in Deutschland befasste. Allein die Tatsache, dass sich die Zahl der Straftaten weiter auf hohem Niveau bewege, sei ein Handlungsauftrag an alle.

Friedrich bezog sich konkret auf den brutalen Überfall auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter, der Ende August vor den Augen seiner Tochter von vermutlich arabischstämmigen Jugendlichen beleidigt und geschlagen worden war, weil er sichtbar eine Kippa trug. Friedrich forderte: "Es darf kein Viertel in irgendeiner Stadt dieses Landes geben, in dem Menschen um ihre Sicherheit oder ihr Leben fürchten müssen, nur weil sie sich zu einer bestimmten Religion bekennen oder eine bestimmte Hautfarbe haben oder weil sie erkennbar anders sind."

Der in Berlin auf offener Straße attackierte Rabbiner Daniel Alter (Foto: dpa)
Der in Berlin auf offener Straße attackierte Rabbiner Daniel AlterBild: picture-alliance/dpa

Laut Bundesinnenminister gehen 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten auf das Konto von Neonazis. Man will deren volksverhetzende Propaganda im Internet besser bekämpfen und setzt dabei auf das neue gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus von Polizei und Geheimdienst. Auf der Tagesordnung, der vom Innenministerium einberufenen ständigen Islam-Konferenz, stehe auch der religiös motivierte Antisemitismus, der vor allem "von Außen in unser Land hineingetragen wird", sagte Friedrich.

Demonstration von jüdischen Organisationen und der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg gegen das Beschneidungsurteil (Foto: dpa)
Demonstration gegen das BeschneidungsurteilBild: picture-alliance/dpa

Alte und neue Vorurteile gegen Juden

Vor fast vollständig besetzter Regierungsbank und in Anwesenheit von Kanzlerin Angela Merkel debattierte das Parlament den Bericht eines 2009 eingesetzten Expertenkreises, der Ursachen und Erscheinungen des Antisemitismus im heutigen Deutschland analysiert und zu der Erkenntnis kommt, dass bei 20 Prozent der Deutschen latenter Antisemitismus festzustellen sei. Dabei stützen sich die zehn Experten auf mehrere, teils ältere, demoskopische Umfragen.

Heutige Judenfeindlichkeit in Deutschland speise sich aus alten Vorurteilen gegen die Juden und einer neuen "mit Antisemitismus aufgeladenen Kritik an Israel". Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern nehme Deutschland einen Mittelplatz ein: Antisemitische Einstellungen seien zwar weniger verbreitet als in osteuropäischen Ländern, aber häufiger anzutreffen als beispielsweise in Italien, Großbritannien und Frankreich, heißt es in dem Bericht. Aus der Sicht der Linkspartei-Politikerin Petra Pau ist Antisemitismus ein Problem der gesamten Europäischen Union. Sie verwies dabei auf erschreckende Umfrageergebnisse aus Ungarn.

Die Debatte fand nicht nur vor dem Hintergrund mehrerer antijüdischer Übergriffe in den letzten Wochen statt, für Irritationen unter den Juden in Deutschland hatte auch ein Urteil des Kölner Landgerichts gesorgt, wonach religiös motivierte Beschneidungen als Körperverletzung zu werten seien. Die Bundesregierung beschloss daraufhin vor einer Woche (10.10.2012) einen Gesetzesentwurf, der religiöse Beschneidungen in Deutschland straffrei stellt, wenn sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen und das Kindeswohl nicht gefährden. In den ersten sechs Lebensmonaten dürfen Säuglinge auch von religiösen Beschneidern beschnitten werden, die zwar keine Ärzte, aber dafür besonders ausgebildet sind. Das Gesetz muss noch vom Bundestag gebilligt werden.

Opposition fordert Handeln statt Reden

Der Grünen-Politiker Volker Beck kritisierte, dass die Bundesregierung bisher keine konkreten Konsequenzen aus den Empfehlungen des Expertenberichts gezogen habe, der bereits seit fast einem Jahr vorliegt. "Es geht nicht darum, dass wir eine Debatte nach der anderen führen und uns am Holocaust-Gedenktag unserer Geschichte erinnern, aber zugleich keine Konsequenzen im Sinne der Prävention für die Zukunft daraus ziehen." Wie Beck forderte auch der SPD-Abgeordnete Wolfgang Thierse eine bessere und kontinuierlichere Finanzierung von Projekten gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sicherte zu, man werde die Empfehlungen des Expertenkreises prüfen, der künftig in jeder Wahlperiode einmal einen Bericht vorlegen soll.

Er erinnerte daran, dass die Bundesregierung den Aufbau jüdischen Lebens in Deutschland stark unterstütze und die Jüdische Gemeinde hierzulande stärker wachse als in allen anderen europäischen Ländern.