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Bundesverfassungsgericht hat Klagen gegen die Neuwahlen auf dem Tisch

Daphne Antachopoulos 1. August 2005

Nach der SPD-Politikerin Hoffman hat auch der Grünen-Abgeordnete Schulz Klage beim Bundesverfassungsgericht eingericht. Die beiden halten die Neuwahlen für verfassungswidrig.

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Eine schwierige Aufgabe wartet auf das BundesverfassungsgerichtBild: dpa

Vor dem Bundesverfassungsgericht ist bislang nur das Aktenzeichen des Verfahrens bekannt: 2 BVE 3/05. Erst der Wortlaut der Klagen im so genannten "Organstreitverfahren" ist ausschlaggebend für die Entscheidung der acht Richter. Die Chemnitzer SPD-Abgeordneten Jelena Hoffmann reichte die Klage gegen die Auflösung des Bundestags am Freitag (29.7.2005) per Post ein, am Montag (1.8.2005) folgte die Klageschrift des Grünen-Abgeordneten Werner Schulz. Der Mannheimer Rechtsprofessor Wolf-Rüdiger Schenke, der Schulz vertritt, hat den 78 Seiten starken Schriftsatz persönlich in Karlsruhe abgegeben, teilte das Gericht mit.

Vertrauensfrage fingiert oder nicht?

Werner Schulz
Bild: AP

Eine Auflösung des Parlaments und vorgezogene Neuwahlen, wie der Bundeskanzler beantragt und der Bundespräsident genehmigt hat, entspräche nicht der deutschen Verfassung, sagen Schulz und Hoffmann. Das sei nur möglich, wenn eine Mehrheit der Abgeordneten kein Vertrauen mehr zum Kanzler hat und seiner Linie nicht mehr folgt, wie es Artikel 68 des Grundgesetzes beschreibt. Am 1. Juli hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder zwar die "Vertrauensfrage" gestellt und danach nicht die Mehrheit der Abgeordneten auf seiner Seite gehabt. Aber das sei fingiert gewesen, so Schulz und Hoffmann.

Schröder hatte faktisch eine - knappe - Mehrheit von drei Abgeordneten. Außerdem wurden noch am Tag vor dieser Vertrauensabstimmung 40 Gesetze eben mit dieser Mehrheit verabschiedet. Christian Hillgruber, Staatsrechtler an der Universität Bonn, ist da anderer Meinung. Obwohl er einräumt, dass der Kanzler bisher keine Abstimmung trotz der knappen Mehrheit verloren hat, sei er überzeugt, dass weitere Reformschritte im Vollzug der Agenda 2010 (Sozialreformen, Red.) nicht mehr die erforderliche Unterstützung aller Abgeordneten seiner eigenen Fraktion und der Fraktion Bündnis 90 /Die Grünen erhalten würde.

Handlungsfähigkeit gelähmt?

Die Verfassungsrechtler in Deutschland sind gespalten. Einige glauben, Schröder könne sich trotz der knappen Mehrheit im Bundestag nicht auf seine Koalition verlassen. Daher sei seine Handlungsfähigkeit so gelähmt, dass er eine "vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll verfolgen" könne. Das sind genau die Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vor 22 Jahren für einen solchen Fall festgehalten hat.

Bislang hält aber die Mehrheit der Experten eben diese Voraussetzungen in diesem Fall nicht für gegeben und folgt der Argumentation, die die beiden Abgeordneten vorbringen. Nachdem der Bundespräsident - als Staatsoberhaupt - aber auch für Neuwahlen plädiert hat, halten sie sich mit ihrer Kritik zurück. Christian Hillgruber erklärt die Entscheidung des Präsidenten damit, dass Köhler die Beurteilung der Lage politischer Instabilität im parlamentarischen Raum durch den Kanzler hat berücksichtigen müssen und sich darüber gar nicht hinwegsetzen konnte.

Druck von Parteien und Bürgern standhalten

Hassemer und Papier, Bundesverfassungsrichter
Bild: AP

Jetzt muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Es wird sich maßgeblich an die frühere Entscheidung aus dem Jahr 1983 halten und an die Kriterien, die die Richter damals aufgestellt hatten, erklärt Michael Reissenberger, Jurist und Hörfunkkorrespondent am Bundesverfassungsgericht. Kanzler Schröder hat sich seiner Ansicht nach an die damals beschriebene Rolle des Kanzlers gehalten und auch Bundespräsident Köhler hat in gewisser Weise ganz ähnlich argumentiert wie vor 22 Jahren Bundespräsident Carl Carstens, so Reissenberger. Und wenn man diese Vorlage für ein kommendes Urteil nimmt, dann ist die Entscheidung nach Reissenbergers Meinung jetzt schon klar: "Am 18. September wird gewählt." Voraussagen kann allerdings niemand, wie das Gericht entscheiden wird.

Schon in der früheren Entscheidung hatte man sich sehr schwer getan, eine fingierte Vertrauensfrage durchzuwinken und gerade deshalb scharfe Kriterien entwickelt, um eine Umgehung der Verfassung künftig zu vermeiden. Jedenfalls darf der Wille aller Parteien und der Mehrheit der Bürger, Neuwahlen durchzuführen, keine Rolle spielen - das steht schon in dem früheren Urteil. Diesem politischen Druck werde das Gericht standhalten, ist Michael Reissenberger überzeugt. Der Berichterstatter erklärt auch, dass das Verfahren sehr schnell laufen kann: "Man verhandelt Anfang August, man schreibt in zwei, drei Wochen das Urteil. In der 2. Hälfte August ist das entscheidende Urteil da. Und dann könnten wir am 18. September voraussichtlich wählen."

Verfassungsgericht entscheidet auch über Wahltermin

Das Gericht hat die Klageschriften vorliegen, ebenso wie die Reden des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten. In einer Beweisaufnahme werden die Kläger gehört, aber auch Vertreter der Fraktionen im Bundestag, ein Vertreter des Bundestagspräsidenten und Staatssekretäre. Die beiden Hauptakteure - Bundeskanzler Gerhard Schröder oder gar der Bundespräsident Horst Köhler - müssen in Karlsruhe nicht mehr sprechen, so Reissenberger. Das hängt damit zusammen, dass das Verfassungsgericht nicht dazu berufen ist, die Einschätzung des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten im Detail zu überprüfen.

Schröder und Köhler haben ihre Einschätzung der Lage in den Reden zu Protokoll gegeben. Falls es noch irgendeine Unklarheit gibt, können das nachgeordnete Staatssekretäre noch aufklären. Reissenberger hält es für unwahrscheinlich, dass man sich erlauben würde, den Bundespräsidenten förmlich zu laden und womöglich noch einem Verhör zu unterziehen. Selbst wenn das Gericht die Neuwahlen schließlich genehmigt - der 18. September kann der Tag sein, an dem die Deutschen an die Urnen gehen, muss er aber nicht.