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Erinnerungen an einen denkwürdigen Berlinale-Abend.

Jochen Kürten20. Mai 2016

In diesen Tagen blicken alle zum Filmfestival nach Cannes. Jeder, der schon einmal bei einem Festival dabei war, hat ganz besondere Erinnerungen. Unser Autor blickt zurück ins Jahr 1983 in die geteilte Stadt Berlin.

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Deutschland Berlinale Publikum im Zoo Palast Berlinale/Max Kullmann
Publikum bei der Berlinale: 1983 war der Zoopalast noch das Zentrum der FilmfestspieleBild: Berlinale/Max Kullmann

1983, es war meine zweite Berlinale. Die Stadt war noch geteilt, mit dem Auto näherte man sich der Grenze mit einem gewissen Unbehagen. Die Kontrollen an den innerdeutschen Übergängen hat wohl niemand vergessen, der einmal an den kargen, grauen Wärterhäuschen ausharren musste. War man aber einmal in der Stadt und schnupperte Festivalluft, fiel die Beklemmung ab, das Kino lockte. Das Angebot der verschiedenen Programm-Sektionen der Berlinale war schon damals groß und unübersichtlich. Und das Bedauern über die vielen verpassten Filme war manchmal stärker als die Freude über die, die man dann sah.

...ein Abend im Delphi

Das Internationale Forum der Berlinale hatte sich seit den frühen 1970er Jahren als Gegengewicht zum Wettbewerb um den Goldenen Bären etabliert. Im Forum wurden oft originellere und mutigere Filme gezeigt. Damals noch mehr als heute. Es überstrahlte nicht selten die eigentliche Hauptsektion, wo oft schwerfällige und künstlerisch schwache Bären-Bewerber aufeinandertrafen.

"Theater des Westens" und Delphi-Palast in Berlin (Foto: Andreas Kirchhoff)
Im Schatten des "Theater des Westens": der Delphi-Palast im HintergrundBild: DW/A. Kirchhoff

1983 war das auch so. Zumindest an einigen Tagen. Ein solcher war der 28. Februar, der vorletzte Festivaltag. Auch damals war das altehrwürdige Delphi-Kino am Berliner Zoo das Zentrum der Forumsreihe. Der Publikumsandrang war auch an diesem Abend ungeheuer groß. Schon früh versammelten sich die Filmfans aus aller Welt im engen, stickigen Foyer des Kinos. Um auch sicher hineinzukommen, standen viele Zuschauer schon über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung vor den Saaltüren. Man blätterte im Festivalkatalog oder schwatzte mit seinem Nachbarn.

Aufregendes Doppelprogramm

Um 19:00 Uhr stand an diesem Tag ein russischer Film auf dem Programm, "Agonia" von Elem Klimov, 150 Minuten Spieldauer, danach, um 22:30 Uhr sollte der amerikanische Film "Heaven's Gate" von Regisseur Michael Cimino folgen, Länge: 245 Minuten. Die 00:15 Uhr-Vorstellung entfiel laut Programm wegen Überlänge des vorangegangenen Films. Da man als "richtiger" Berlinale-Fan morgens um 9:00 Uhr mit dem Filmegucken angefangen hatte, war das Pensum des Tages bis zum Abend schon beträchtlich. Auch ich hatte an diesem Montag schon drei oder vier Filme gesehen, an deren Titel ich mich heute nicht mehr erinnern kann.

Filmszene aus "Heaven's Gate" (Foto: picture alliance / KPA)
Überwältigende Szenerie: Der große Tanz in Wyoming in "Heaven's Gate"Bild: picture alliance / kpa

Wohl aber an die beiden, die dann folgen sollten. Es sollte für alle Anwesenden im Delphi-Kino ein denkwürdiger Filmabend werden. Aus mehreren Gründen. Vor allem weil es zwei phantastische, beeindruckende Filme waren, überwältigend in ihrer Bildsprache, mit einer Wucht und Kraft erzählt, die einem schier den Atem verschlug - auch noch nach zehn Festivaltagen und all den Filmen, die man gesehen hatte und die einem im Schädel herumschwirrten. Zwei Filme, die man auch nach über drei Jahrzehnten Berlinale und tausenden Kinobesuchen nicht vergessen hat.

Inzwischen sind es zwei geradezu mythisch verehrte Werke der Filmgeschichte. Vor allem "Heaven's Gate" ist einer jener Filme, um die sich bis heute viele Legenden ranken, über die Bücher geschrieben wurden, unzählige aufregende Drehberichte kursieren.

Michael Cimino (Foto: imago/Granata Images)
Exzentrischer Regisseur: Michael CiminoBild: imago stock&people

Legendärer Regisseur: Michael Cimino

Michael Cimino galt seit seinem Vietnam-Epos und Berlinale-Skandal von 1979 (der Film hatte wegen Protesten der Sowjets fast zum Abbruch des Festivals geführt) als einer der wichtigsten innovativen Hollywood-Regisseure. "The Deer Hunter" hatte viele Preise gewonnen, unter anderen zwei Oscars. Mit dem monumentalen Western "Heaven's Gate" wollte er sich selbst übertreffen.

Man hatte schon vor der Vorstellung viel über den Film gehört: dass er ein ganzes Produktions-Studio in den Ruin getrieben habe, dass das Budget explodiert sei, dass Darsteller und Teammitglieder am Rande des Nervenzusammenbruchs gestanden hätten. All das sah man dem fertigen Film nicht an. Der epische Spätwestern erzählte von den Kämpfen zwischen reichen Rinderfarmern und armen europäischen Einwanderern im ausgehenden 19. Jahrhundert in Wyoming. Zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren entbrennt ein Streit, auch um eine Bordellchefin, gespielt von der damals blutjungen Isabelle Huppert.

Filmszene aus Heaven's Gate von Michael Cimino (Foto: imago/United Archives KPA)
Protagonisten in "Heaven's Gate: Kris Kristofferson und Isabelle HuppertBild: Imago/United Archives

Rauschhaftes Filmerlebnis: Heaven's Gate & Agonia

"Heaven's Gate" wurde im gigantischen 70 mm-Format gezeigt, es gab nur eine einzige Kopie auf der Welt und die war in Europa zuvor nur zweimal vorgeführt worden.

Ich war überwältigt nach diesen 245 Minuten, glücklich, aber auch ermattet. Schließlich war ich unmittelbar zuvor bereits für 150 Minuten tief in die russische Geschichte eingetaucht.

"Agonia" hatte eine mitreißende Tour de Force durch das Russland des Zarenreiches geboten. Der Film schildert die Geschichte des charismatischen Wundermönches Rasputin, der einige Jahre fest die Zügel am Zaren-Hof in der Hand gehalten hatte.

Das russische Kino stand damals im Zeichen von Glasnost und Perestroika, "Agonia", von Elem Klimov schon 1974 begonnen, war nach langen Irrwegen durch die russische Filmbürokratie erst Anfang der 1980er Jahre fertig gestellt worden und erlebte nun bei der Berlinale seine umjubelte Premiere.

Russischer Regisseur Elem Klimow (Foto: Mary Evans Picture Library)
Innovativer russischer Regisseur: Elem Klimov (1933 - 2003)Bild: picture-alliance/Mary Evans Picture Library/Ronald Grant Archive

Ein monumentaler amerikanischer Geschichtswestern und ein sowjetisches Historienepos, beides zusammen fast 400 Minuten Film. Beides waren überwältigende Kinoerlebnisse. Ich hatte tatsächlich damals das Gefühl, einem historischen Berlinale-Abend beigewohnt zu haben. Und auch nach den über 30 Festivaljahrgängen, die ich danach mitmachen durfte, blieb dieser 28. Februar 1983 der unvergesslichste Berlinale-Abend. Er hat sich ewig eingebrannt in mein Kino-Hirn.

In der neuen Ausgabe von KINO erinnern sich die DW-Kollegen in bewegten Bildern an ihre eindrücklichsten Festivalerlebnisse, in Cannes und Toronto, in Berlin und Locarno, aber auch an Erlebnisse bei weniger bekannten Festivals wie dem in Buenos Aires.