1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Chance für eine langfristige Konsolidierung"

28. Juni 2002

- Interview mit dem ungarischen Politologen László Kéri

https://p.dw.com/p/2S1b

Budapest, 27.6.2002, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch, Andreas Gulya

László Kéri ist einer der prominentesten Analytiker der ungarischen Politik. Der Dozent und ehemalige Berater von Ex-Premier Gyula Horn hat mehr als zehn Bücher sowie 100 Aufsätze über den Systemwechsel der letzten zwölf Jahre geschrieben. Kéri sieht den Start der neuen Regierung positiv.

Frage: Was hat Ihrer Meinung nach zum Regierungswechsel geführt?

Antwort:

Alle Analysen gehen auf die Wahlkampagne und die letzten beiden Monate vor der Wahl ein und versuchen daraus die Wahlniederlage der damaligen Regierung abzuleiten. Völlig falsch. Seit Herbst 1999 lag die MSZP (Ungarische Sozialistische Partei - MD) mit gut zehn Prozent vor dem Fidesz (Bund Junger Demokraten - MD) und das aus zwei Gründen: die unermessliche Arroganz der Regierenden und die Polarisierung der Gesellschaft. Es wurde ein moderner Populismus an den Tag gelegt, wer ist ein Bürger, wer keiner, wer ist der Landesverräter, wer ist für mich, wer ist gegen mich. Sie haben die vierzig Jahre Kádárismus kritisiert, aber dessen Methoden sogar übertroffen.

Frage:

Meinen Sie nicht, dass Sie übertreiben?

Antwort:

Zwischen November und Januar 1998 und 1999 haben ich das Land sehr intensiv bereist. Schon damals war festzustellen, dass bei der Bevölkerung die oben beschriebene Politik deutlich abgelehnt wird. Es ist auch wahr, dass die MSZP drei Jahre lang nichts unternommen hat, was Wähler angezogen hätte. Die beste Leistung war, sich auf Medgyessy als Premierkandidaten zu einigen. Die Unzufriedenen hat sie im Zaum halten können, es gab keinen Querulanten. Der Fidesz hat seit 1998 die Schreckensbilder Tocsik (Frau Tocsik hat die scharfen Kontrollen bei der Treuhandanstalt zur Zeit der Sozialistischen Regierung durchgeführt - MD) und das Bokros-Paket (Der ehemalige Finanzminister Bokros hatte mit einem Stabilisierungspaket 1996 das Land vor einer schweren Finanzkrise bewahrt. Er wird von Rechtspopulisten angegriffen, weil er angeblich das Lebensniveau der Bevölkerung ohne Grund gesenkt hat - MD) an die Wand gemalt. Aber die Arroganz und unnötige Spaltung der Gesellschaft haben schwerer gewogen.

Frage:

Hat die Wahl Ihnen auch andere Erkenntnisse gebracht?

Antwort:

Oh ja. Das größte Ergebnis der Wahl ist, dass die MIÉP (rechtsextreme ungarische Gerechtigkeitspartei - MD) nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung hat sich erwiesen, dass die MIÉP keine Chance hat, ins Parlament zu kommen. Es wäre an der Zeit, dass Journalisten und andere westeuropäische Beobachter ihre Auffassungen über Ungarn überdenken.

Frage:

Was für Alternativen bieten sich jetzt für die Bürgerlichen?

Antwort:

Diese rechte Bürgerbewegung könnte eine permanente Bewegung werden und immerhin um die 40 Prozent der Wähler ausmachen. Der Erfolg zwischen den beiden Wahlgängen lieferte die Idee. Orbán zog den Schluss, dass man bei der Generation zwischen 14 und 25 Jahre eine starke Anhängerschaft hat. Diese Generation ist sehr stark an Äußerlichkeiten gebunden. Es kommt noch hinzu, dass die MSZP mit der Visualität, mit der sie angelockt wurden, nichts anzufangen weiß. Der Fidesz setzt diese Visualität sehr erfolgreich mit dem nationalen Bewusstsein ein.

Frage:

Was verstehen Sie unter diesen Instrumenten?

Antwort:

Sie vermitteln einen falschen Realismus. Sie nutzen sehr geschickt die Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus. Es wird vergessen, dass der Fidesz selbst im Parlament sitzt. Man will keinen Realismus mehr, das kollektive Erleben tritt in den Vordergrund. Die Geschichte wird ab hier gefährlich, denn die Massen werden auf einer emotionalen Basis mobilisiert. Ein Führer wird auf das Schild gehoben, und er kämpft gegen die Regierung. Das bisherige parlamentarische System wird in die Ecke gestellt, die Politik wird auf der Straße fortgesetzt.

Frage:

Wie geht die Zusammenarbeit von Fidesz und MDF weiter?

Antwort:

Ich habe das Gefühl, dass das MDF nicht unbedingt in dieser Bewegung aufgehen will. Durch feine Manöver macht es deutlich, dass es den Ort der Politik im Parlament sieht. Selbstverständlich gibt es MDF-Mitglieder (Ungarisches Demokratisches Forum - MD), die sich vom Fidesz kaufen lassen. Wenn das MDF bei dieser Politik bleibt, dann wird es im Mitte-Rechts-Lager erneut an Stärke gewinnen.

Frage:

Wird sich die neue Regierung vier Jahre halten können?

Antwort:

Eine Mehrheit ist eine Mehrheit, auch wenn sie nur eine Stimme betragen sollte. Es gibt in Westeuropa mehrere Bespiele dafür, dass man mit einer Stimme vier Jahre regieren kann. Zwischen 1994 und 1998 verfügte die Koalition über eine ausreichende Zweidrittelmehrheit. Dementsprechend war sie undiszipliniert. Diese kleine Mehrheit diszipliniert. Medgyessy hat seine Regierung sehr geschickt zusammengestellt, es gibt keine Spannungen. Die handelnden Leute sind kompromissfähige Politiker. Der Druck des Fidesz ist so stark, dass die Koalition zu Disziplin gezwungen wird.

Frage:

Wie sehen Sie das neue Regierungsprogramm?

Antwort:

Es ist ein Novum. Antall wusste nicht, worauf er sich einließ, Horn hat lediglich etwas Administratives ausarbeiten lassen, Orbán war voller Visionen. Jetzt wurde ein echtes Regierungsprogramm vorgelegt, bei dem der EU-Anschluss im Mittelpunkt steht. Das Regierungsprogramm für die ersten hundert Tage ist ebenfalls konkret.

Frage:

Was wird die neue Regierung charakterisieren?

Antwort:

Diese Regierung nimmt den EU-Anschluss sehr ernst. Gesellschaft und Volkswirtschaft sind der EU angeschlossen. Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Rechtssicherheit sind die Eckpfeiler der Politik der neuen Regierung. Die Anleger dürfen wieder kommen, sie werden nicht enttäuscht werden. Das erste Mal in der ungarischen Geschichte hat sich die Möglichkeit einer langfristigen Konsolidierung ergeben. Die Parlamentswahlen von 2002 werden aber erst mit den Kommunalwahlen richtig zu Ende gehen. Ganz entscheidend ist, wie in den 30 bis 40 ungarischen Großstädten und den 19 Komitatszentren abgestimmt wird. Wenn hier die Koalition zu einer Mehrheit kommt, ist das eine eindeutige Bestätigung. (fp)