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Chance nicht verstreichen lassen

Klaus Dahmann12. Februar 2003

Vor einem Jahr begann der Milosevic-Prozesses vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag. Auch zwölf Monate später hat in der Region noch keine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen.

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Slobodan Milosevic:<br>Fanatiker ohne Reue?Bild: AP

Das Interesse der Welt-Öffentlichkeit vor einem Jahr war überwältigend: Der einstige Despot, der eine ganze Region in den Krieg gestürzt hatte, musste sich vor Gericht wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verantworten. Das war wahrhaft eine Sensation, mit der eigentlich kaum jemand noch gerechnet hatte. "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen" - diese Befürchtung hatten viele. Und doch schaffte es Carla Del Ponte, die Chef-Anklägerin des Tribunals, mit freundlicher Unterstützung der serbischen Regierung, den Hauptverantwortlichen für die Gewalt im ehemaligen Jugoslawien vor die Haager Richter zu bringen.

Autistisch und gespenstisch

Und da sitzt er nun - Slobodan Milosevic - geradezu autistisch, gefühllos und taub für alle Grausamkeiten, die er befohlen hat, und tut so, als habe es diese Gräuel nie gegeben. Aus Zeugen des Leids, das er Abertausenden zugefügt hat, versucht er Angeklagte zu machen. Wenn der Richter ihm das Wort erteilt, dann ist es, als erwache in ihm das Gespenst jenes skrupellosen Machtpolitikers zum Leben, der er einmal war. Und man reibt sich unverständig die Augen: Ob er den verwirrten Fanatiker nur spielt? Oder hat er vielleicht all diese Propaganda sich selbst schon so oft sagen hören, dass er sie tatsächlich glaubt?

Die immer gleichen Propaganda-Tiraden, die Milosevic hier von sich gibt, sind für die Opfer seiner Kriegstreiberei fortgesetzte Grausamkeit. Und leider gibt es noch immer zu viele in der Region, die seinen abstrusen Verschwörungs-Theorien applaudierend zustimmen.

Kein Anlass für Vergangenheitsbewältigung?

Da mag man fast schon froh sein, dass sich mittlerweile viele Menschen in den Nachfolge-Staaten Jugoslawiens für den Fortgang der Verhandlung nicht mehr interessieren. Zwölf Monate sind bereits vergangen, ohne dass auch nur die Anklage ihre Beweisführung abgeschlossen hat. Ein Prozess - und sei es auch der gegen Milosevic - ist keine Fernseh-Serie, die man sich jeden Abend anschaut. Und dazu ist er auch nicht gedacht.

Das Wichtigste am Milosevic-Prozess scheint für viele inzwischen die Gewissheit zu sein: Der Prozess läuft. Milosevic sitzt bereits jetzt hinter Gittern. Und die Haager Ankläger bemühen sich darum, dass er dort bleibt. Aber das kann, ja, das darf nicht alles sein. Warum wird der Milosevic-Prozess nach wie vor nirgendwo in der Region zum Anlass genommen, um die Geschehnisse von damals kritisch von allen Seiten zu beleuchten? Was hilft die Gewissheit, dass der mutmaßliche Haupt-Kriegsverbrecher vor Gericht steht, wenn immer noch zu viele Menschen zu wenig über die damaligen Gräuel wissen - und einige es nicht einmal wissen wollen?

Streit um Geschichtsschreibung

Und so schwelt der Streit zwischen Serben, Kroaten und Bosniern um den Inhalt von Geschichtsbüchern weiter. Und selbst Politiker der Nachfolge-Generation greifen von Zeit zu Zeit in die Rhetorik-Kiste von Slobodan Milosevic und Franjo Tudjman - etwa wenn es um die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher geht.

In Sachen Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt viel zu tun - und es muss getan werden. Und zwar von den Menschen in der Region - nicht von den Richtern in Den Haag. Denn der Milosevic-Prozess wird, realistischen Schätzungen zufolge, frühestens 2005 enden - wenn es denn überhaupt zur Verkündung des Urteils kommt. Sechs Mal musste der Prozess bisher wegen Krankheit des Angeklagten unterbrochen werden. Ein definitiver Abbruch der Verhandlung aus diesem Grunde ist nicht ausgeschlossen.

Sollte es dazu kommen, wäre das in der Tat eine Katastrophe. Ebenso fatal aber wäre es, wenn man jetzt - da klare Zeugen-Aussagen über dieses dunkle Kapitel der Geschichte vorliegen - in der Region selbst die Chance für eine öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit verstreichen ließe.