1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Chefsache Ost

Bernd Gräßler12. September 2002

Nur 20 Prozent der Wahlberechtigten leben im Osten. Dennoch gilt ihnen die Aufmerksamkeit der Wahlkämpfer. Denn auch zwölf Jahre nach der deutschen Einheit ist die Parteienbindung hier geringer als in Westdeutschland.

https://p.dw.com/p/2dyA
Süße Wahlwerbung: die PDS kämpft mit Bonbons um StimmenBild: AP

Schon Anfang des Jahres, kaum zum Kanzlerkandidaten der Union gekürt, machte Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber für viele überraschend den Aufbau Ost zu seinem ersten Wahlkampfthema. "35 Prozent aller deutschen Arbeitslosen sind leider in den fünf neuen Ländern zu Hause", sagte er und legte mit einer Kritik an seinem Kontrahenten nach: "Herr Schröder hat das Erbe, was er übernommen hat und was er verbessern wollte, er hat es ganz erheblich verschlechtert und die Menschen hoffnungsloser gemacht, als sie 1998 gewesen sind."

Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte bei Amtsbeginn 1998 den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt. Das Ergebnis ist aus der Sicht vieler Ostdeutscher ähnlich ernüchternd wie bei Helmut Kohls Versprechen von 1990, er werde binnen kurzem blühende Landschaften schaffen. Die wirtschaftliche Aufholjagd der neuen Bundesländer gegenüber dem Westen ist vor Jahren zum Erliegen gekommen.

Hohe Arbeitslosigkeit

Im Osten gibt es fast 20 Prozent Arbeitslose und viele junge Menschen wandern Richtung Westen ab. Die Ursachen sind keineswegs allein vier Jahren rot-grüner Regierung anzulasten: Das niedrige Wirtschaftswachstum im Osten ist vor allem durch den Zusammenbruch der nach der Vereinigung übermäßig aufgeblähten Bauwirtschaft zu erklären.

Auch der strikte Sparkurs der rot-grünen Regierung berücksichtigte den Osten: Sonderprogramme für Ausbildungsplätze wurden in Gang gesetzt, ein zweiter Solidaritätspakt geschlossen, der dem Osten bis zum Jahr 2019 finanzielle Transfers von 156 Milliarden Euro sichert. Viele Ostdeutsche meinen, dass es nicht am guten Willen des Kanzlers lag, wenn in den vergangenen vier Jahren nicht mehr erreicht wurde. Laut Umfragen sehen die meisten Bürger der neuen Bundesländer trotz magerer Ergebnisse die "Chefsache Ost" bei Schröder auch künftig in besseren Händen als bei Stoiber.

Hochwasser als Wahlkampfthema

Die Hochwasserkatastrophe an Elbe und Mulde hat diese Überzeugung gefestigt. Sie war die Stunde des Kanzlers als Krisenmanager. Während Stoiber noch zögerte, wie er sich verhalten solle, um nicht des Wahlkampfes auf den Hochwasserdeichen beschuldigt zu werden, konnte der Kanzler kraft seines Amtes sofort in die am schwersten verwüsteten Gebiete reisen und feststellen, so etwas Fürchterliches habe er in seinem Leben noch nicht gesehen: "Es ist in den betroffenen Gebieten ein Neuanfang beim Aufbau Ost notwendig."

Der Kanzler veranlasste schnelle Soforthilfe bis hin zur finanziellen Entschädigung von Privathaushalten und Unternehmen und konnte der beim Besuch des CDU-regierten Bundeslandes Sachsen, das von der Flut am härtesten getroffen wurde, feststellen: "In einer wirklich beispiellosen gemeinsamen Aktion ist es gelungen, Flutschäden zu begrenzen, Soforthilfe zu leisten und mit den Aufräumarbeiten zu beginnen."

Schröders Versprechen

Das Ziel ist klar: Der Osten darf wirtschaftlich nicht noch weiter zurückfallen. Schröder kündigte deshalb an, nach der Flut werde es keinem davon betroffenen Unternehmen materiell schlechter gehen als vorher. Ein unhaltbares Versprechen, da allein Sachsen die Schäden auf 16 Milliarden Euro beziffert, kritisiert die Opposition.

Hinter dem Hochwassereinsatz des Kanzlers verblasste sogar der ursprüngliche Wahlkampfknüller von Rot-Grün für den Osten. Ein neue staatliche Anleihe soll Milliarden von Euro für Arbeitsplätze in Ostdeutschland beschaffen.

Stoibers Vorschläge

Doch auch Schröders Herausforderer verspricht zusätzliche Milliarden über den bereits beschlossenen Solidarpakt hinaus. Außerdem will Edmund Stoiber den Osten mit Sonderregelungen von bürokratischen Hürden befreien. Laut Umfragen sprechen die ostdeutschen Wähler Stoiber eine größere Wirtschaftskompetenz zu.

Doch viele bezweifeln, dass er sich als Bundeskanzler für sie mit dem gleichen Elan einsetzen würde, wie bisher als Ministerpräsident für die Bayern. Gerade aus München kam in den vergangenen Jahren immer wieder der Vorwurf, im Osten würde Geld verschwendet und die Frage, ob es sinnvoll sei, weiterhin so viele Milliarden dorthin zu pumpen. Gabi Zimmer, Parteivorsitzende der PDS, hofft auf das gute Gedächtnis der Wähler: "Die große Mehrheit der Ostdeutschen sagt, den wollen wir nicht, der hat Kreide gefressen, der belügt uns Wähler.

PDS als Vertreter der Ostdeutschen

Obwohl nur jeder Fünfte in den neuen Bundesländern PDS wählt, sieht sich die Partei als einziges authentisches Sprachrohr der Ostdeutschen und reagiert besonders nervös auf die Ost-Offensive des konservativen Kanzlerkandidaten. Als gelungener Schachzug Stoibers im Kampf um die ostdeutschen Wähler gilt die Aufnahme des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth in sein Wahlkampfteam. Späth ist im Osten populär, weil er im thüringischen Jena aus einem früheren volkseigenen Kombinat das weltweit operierende Unternehmen Jenoptik aufbaute.

Allerdings unterscheiden sich die Wirtschaftsrezepte der Parteien für den Osten in den Kernpunkten nicht. Man ist sich einig: nur die drei I - Infrastruktur, Investition, Innovation - können den vielzitierten "selbsttragenden Aufschwung" im Osten bewirken, der wiederum neue Jobs bringt.