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Clement: "Sie waren wie Kaninchen"

Carla Christ10. Oktober 2014

In Mexiko werden täglich Mädchen von Drogenbossen entführt. Sie kehren nie wieder zurück. Die mexikanisch-amerikanische Autorin Jennifer Clement spricht darin in ihrem Roman "Gebete für die Vermissten".

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Mexiko Drogenkrieg vermisste Kinder
Bild: Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images

DW: Wie entstand der Roman?

Jennifer Clement: Er entstand mit dem Bild des Löchergrabens. Eine Mutter erzählte mir von der Idee, Löcher in die Erde zu graben, in denen sich die Mädchen verstecken konnten - wie es normalerweise Kaninchen tun. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen. Der Gedanke, ein kleines elfjähriges Mädchen zu sein, das sich in einem Loch in der Erde vor Drogendealern verstecken muss, war grauenvoll. Es war ein Bild, das mich sehr ergriff und mich nicht losließ.

Wie lange haben Sie für den Roman recherchiert?

Im Grunde genommen dauerte die Recherche etwa zehn bis elf Jahre. Ich bezeichne es jedoch nicht gerne als "Recherche". Ich recherchiere nicht in dem Sinn, wie es ein ermittelnder Journalist, ein Soziologe oder ein Politiker machen würde. Ich betrachte das Geschehen mit den Augen eines Poeten. Ich habe mit Frauen in Supermärkten, Restaurants, Hotels oder am Strand in den Städten Acapulco und Chilpanginco gesprochen - insbesondere mit Müttern von verschwundenen Mädchen. Außerdem habe ich das Frauengefängnis von Mexiko City besucht.

Mexiko Militärpolizei Militär Soldaten
Neben ihren Hütten graben die Mütter Löcher in die Erde - um ihre Töchter vor den Drogenbossen zu schützenBild: picture alliance/dpa/Jesus Espinosa

Diese Frauen haben Ihnen ihre Erlebnisse anvertraut - hatten sie dabei keine Angst vor den Drogendealern?

Nein, im Gegenteil - denn wir alle möchten unsere Geschichte erzählen. Ich war immer wieder erstaunt, wie offen die Frauen waren. Allerdings habe ich nie mit einem Mädchen gesprochen, das verschleppt worden ist, weil keine von ihnen jemals wieder zurückgekommen ist. "Gebete für die Vermissten" jedoch ist ein Roman, bei dem ich mir die Figuren ausdenken und den Verlauf der Geschichte steuern konnte, das zeigt zum Beispiel die fiktive Figur Paula.

Gibt es in Mexiko wirklich so gravierende Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen - insbesondere was deren Kindheit und Erziehung angeht?

Mein Roman spielt in einem sehr ländlichen Teil des mexikanischen Bundesstaates Guerrero. In Mexiko gibt es viele tiefgreifende Probleme - insbesondere zwischen Frauen und Männern. Es gibt unterschiedliche Arten von Gewalt: "Gebete für die Vermissten" zeigt die Art Gewalt gegenüber Frauen, die sehr oft in Guerrero auftritt. Die Mädchen werden verschleppt und missbraucht. Viele von ihnen sprechen nicht einmal Spanisch, sondern nur indigene Sprachen. Um sie zu beschützen, versuchen ihre Mütter sie "hässlich zu machen", schneiden ihnen die Haare ab, malen die Zähne schwarz an und verkleiden sie als Jungs.

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Rote Mohnfelder in Mexiko. Aus den Samen der Pflanzen werden Drogen hergestellt.Bild: imago/blickwinkel

Frau Clement, Sie waren von 2009-2012 Präsidentin von PEN Mexico - was können Sie zur Situation von Schriftstellern und Journalisten in Mexiko sagen?

In den letzten zwölf Jahren wurden in Mexiko 75 Journalisten umgebracht. Aber niemand kommt in Mexiko ins Gefängnis, weil er einen Journalisten getötet hat. Aktuell werden 20 Journalisten vermisst. Dank der Arbeit, die PEN und andere Gruppen leisteten, ist der Mord an einem Journalisten inzwischen ein bundesstaatliches Verbrechen. Somit kann die ganze Macht des Staates greifen und versuchen, die Morde aufzuklären. Allerdings wurde bis zum heutigen Zeitpunkt kein einziges Verbrechen aufgeklärt.

Im Roman scheint es so, als seien Mexikaner trotz Korruption, Drogenhandel oder Entführungen sehr stolz auf ihr Land. Können Sie das bestätigen?

Ja, das ist richtig. Mexikaner lieben Mexiko wirklich sehr. Das größte Problem, das die USA mit den mexikanischen (il)legalen Immigranten hat, ist die Tatsache, dass diese nicht bleiben möchten. Sie wollen Geld verdienen und träumen davon, nach Mexiko zurückzukehren. Sie möchten kein Teil der Gesellschaft werden und somit z.B. keine Englischkurse machen oder an einer Universität studieren. Sie sehen die Vereinigten Staaten nicht als ihr Land an, und das macht eine Integration natürlich schwer.

Das Gespräch führte Carla Christ.

Jennifer Clement wurde 1960 in Greenwich, Connecticut (USA) geboren und wuchs in Mexiko-Stadt auf. Sie studierte Literaturwissenschaft und Anthropologie in New York und Paris. Neben Romanen veröffentlicht sie auch Lyrikbände. Bekannt wurde sie im Jahr 2000 mit dem literarischen Porträt der "Widow Basquiat". Heute lebt sie mit ihrer Familie in Mexiko.

Interview mit der Autorin Jennifer Clement
DW-Reporterin Carla Christ im Interview mit Jennifer ClementBild: DW/H. Mund