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Dämpfer für Ankara: Öcalan-Urteil könnte EU-Beitrittspläne erschweren

12. Mai 2005

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für die Menschenrechte ist ein Rückschlag für den Weg der Türkei in die EU. Ankara wird lernen müssen, nationales Recht der europäischen Rechtsprechung unterzuordnen.

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Die höchste Führungsetage der Türkei hat das Urteil des Europäischen Menschenrechts-Gerichtshofes in Sachen Abdullah Öcalan weit weg von der Hauptstadt Ankara zur Kenntnis genommen. Während in Straßburg das für Ankara wenig schmeichelhafte Urteil verkündet wurde, waren Staatspräsident, Parlamentspräsident, Ministerpräsident und Außenminister von Portugal über Ungarn und die Ukraine bis nach Australien ausgeschwärmt, um zeitgleich echte oder vermeintliche Fortschritte der Türkei im Heranführungsprozess an die Europäische Union anzupreisen. Bei der Urteilsverkündung in Straßburg wurde jedenfalls kein türkischer Regierungsvertreter gesichtet.

Fragezeichen hinter der Beitrittsfähigkeit

Und das ist auch kein Wunder: Das Urteil der Richter ist ein deutlicher Dämpfer und setzt ein großes Fragezeichen hinter das Schaulaufen türkischer Regierungsvertreter auf internationalem Parkett. Wieder einmal müssen die türkischen Spitzenpolitiker erkennen: Entscheidend für eine spätere Beitrittsfähigkeit der Türkei sind nicht beeindruckende Medienauftritte und vollmundige Versprechungen, sondern einzig und allein die Erfüllung von Auflagen und Kriterien.

Der Straßburger Gerichtshof hat festgestellt, dass der Prozess gegen den 1999 in Kenia festgenommenen und noch im selben Jahr zum Tode verurteilten Führer der militanten kurdischen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) unfair gewesen ist. Dass die Türkei im Jahre 2002 die Todesstrafe insgesamt abschaffte und deswegen das Todesurteil gegen Öcalan in eine lebenslange Haftstrafe umwandelte, ändert nichts an dieser Urteilsfindung. Die Prozessführung widersprach nach Meinung der Richter der Menschenrechtskonvention, die auch Ankara unterzeichnet hat.

Die abenteuerliche Festnahme Öcalans in Nairobi nach dessen Odyssee durch halb Europa und seine Inhaftierung auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer hingegen wurden nicht als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention bezeichnet. Dies hilft Ankara allerdings nichts. Das Straßburger Urteil zeigt vielmehr: Ob es der Türkei passt oder nicht - auch der Umgang mit inhaftierten 'Staatsfeinden' gehört zu den Kriterien, die über die Beitrittsfähigkeit eines Landes entscheiden.

Ankara muss sich entscheiden

Der Ball liegt nun auf dem Feld der Türkei. Es wäre ein Fehler, sich nun auf die eigenen Gesetze zu berufen und ein Wiederaufrollen des Öcalan-Prozesses rundweg abzulehnen. Damit würde Ankara nämlich zeigen, dass es weiterhin nicht bereit ist, nationales Recht der europäischen Rechtssprechung unterzuordnen. In Europa würde dieses einen sehr negativen Eindruck hinterlassen und so verstanden werden, als entferne sich Ankara von seinen europäischen Idealen.

Das Öcalan-Urteil verdeutlicht einmal mehr, dass Lippenbekenntnisse und umfangreiche Reformen der Türkei nur wenig bringen, solange öffentliche Meinung und Klima sich nicht ändern. Aus türkischer Sicht trägt Öcalan wegen seines bewaffneten Kampfes gegen die türkischen Sicherheitskräfte zwischen 1984 und 1999 die Hauptverantwortung für den Tod von fast 40.000 Menschen. Deshalb liegt auf der Hand, dass das Straßburger Urteil in breiten Teilen der türkischen Öffentlichkeit auf Empörung stößt und damit indirekt die Nationalisten und andere innertürkische EU-Gegner stärkt. Doch Ankara muss auf dem Weg in Richtung EU auch Rückschläge verkraften und daraus konstruktive Rückschlüsse für die eigenen Ziele ziehen.

Baha Güngör
DW-RADIO/Türkisch, 12.5.2005, Fokus Ost-Südost