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Daša Drndićs:"Sonnenschein"

Sabine Peschel12. Juli 2015

Zwischen Fakten und Fiktionen: Ein ungewöhnlicher Dokumentarroman voller Namen, Lieder und Geschichte erzählt von der Beziehung einer Jüdin zu einem SS-Offizier und vom Schrecken des 20. Jahrhunderts.

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Die kroatische Autorin Daša Drndić
Die kroatische Autorin Daša DrndićBild: picture-alliance/dpa/H. Kaiser

Sie wartet. Der Schaukelstuhl quietscht, die Zeit verrinnt, Erinnerungen kehren zurück, dokumentiert in alten Briefen und Fotos. Haya Tedeschi wartet im Sommer 2006 seit 62 Jahren – worauf, verrät das Buch lange nicht.

Was daherkommt wie ein gewöhnlicher Romananfang, der eine Figur und mit ihr die Aussicht auf ihre Geschichte anbietet, führt schon nach wenigen Seiten auf unerwartetes, historisches Terrain. Der sogleich breit aufgefächerte Stammbaum der Familie Tedeschi ähnelt dem der realen Familie Schiff, auf deren als Biografie publizierten Geschichte einer der Erzählstränge beruht. Mit den Tedeschis rückt die Stadt Gorica und eine Zeitspanne von einhundert Jahren in den Blick. Der Leser findet sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Görz wieder und folgt unversehens dem wechselhaften Schicksal dieser einst österreichisch-ungarischen, dann italienischen, später jugoslawischen, jetzt italienisch-slowenischen Grenzstadt.

Österreichische Truppen in Görz 1917
Österreichische Truppen in Görz 1917Bild: picture alliance/K.K. Kriegspressequartier,Lichtbildstelle - Wien/ÖNB-Bildarchiv/picturedesk

Fiktion und Dokumentation in einem

Es ist nicht einfach, Daša Drndićs Roman zu beschreiben. Handelt es sich überhaupt um ein erzählerisches Werk? Oder doch im Wesentlichen um eine historische Recherche, eine Zusammenstellung von Archivmaterial? Ein Sachbuch, dessen erzählerische Elemente für die Autorin und die Leser eine persönliche Annäherung an ein zutiefst belastetes Thema ermöglichen sollen?

Drndić, die zu den bekanntesten Autoren Kroatiens gehört, reiht ihr Werk in die Tradition der dokumentarischen Fiktion ein. Acht Jahre lang hat sich die Autorin mit ihrem Stoff beschäftigt; zwei davon in Archiven verschiedener Länder in verschiedenen Sprachen recherchiert. Diese Recherche führt durch die grausame Geschichte des europäischen, insbesondere des südeuropäischen 20. Jahrhunderts.

Namen ohne Geschichte

Das in zwei Teile zerfallende Buch erzählt in seinem ersten das Leben der Jüdin Haya und das ihrer Familie und Freunde, eingebettet in die Geschichte der beiden Weltkriege und des Faschismus. Für viele der fiktional-realen Figuren führt sie nach Auschwitz oder andernorts in die Vernichtung. Für Haya, die zu der Zeit in Triest lebt, dagegen zum SS-Untersturmführer Kurt Franz. Am 31. Oktober 1944 wird Antonio Toni Tedeschi geboren. Seine Mutter lässt ihn katholisch taufen, sein Vater, der sich schnell verabschiedet, sieht ihn nur zwei Mal. Fünf Monate später wird der Junge seiner Mutter auf offener Straße gestohlen. Er ist es, der unbekannte Sohn, den sie an ihrem Lebensabend erwartet.

Das erste Lebensborn-Heim in Steinhöring bei München, 1938
Das erste Lebensborn-Heim in Steinhöring bei München, 1938Bild: picture-alliance/akg-images

"Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte." Diesen Gedanken stellt Daša Drndić dem zweiten Buchteil voran, der mit einer siebzig Buchseiten umfassenden Auflistung der Namen von insgesamt neuntausend ermordeten Juden beginnt, Menschen, die zwischen 1943 und 1945 aus Italien oder von Italien besetzten Ländern deportiert oder dort ermordet wurden. Bloße Namen, deren Geschichte nie erzählt werden kann. Im kroatischen Original sind diese Buchseiten nicht aufgeschnitten; die deutsche Ausgabe deutet das durch ihren rauen Beschnitt nur an.

Historische Zeugenschaft

Die letzten 180 Seiten von Drndićs Buch umfassen Protokolle von Naziprozessen, Alpträume und historische Darstellungen, verknüpft mit der Entwicklung Hayas und ihrer Familie. Diese fiktiven Anbindungen führen immer wieder tief in die Historie, nach Pirna in der Nähe von Dresden, wo in der Vernichtungsstätte "Sonnenstein" angeblich psychisch Kranke in großer Zahl ermordet wurden, nach Treblinka oder zur Tötungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Die Suche des Sohns nach seinen unbekannten biografischen Wurzeln ruft die schreckliche Geschichte der Lebensborn-Heime auf, in denen das große Geheimnis des "Dritten Reichs", das "Bevölkerungsprojekt zur Stärkung und Verbreitung des Übermenschen", der "Lebensbornplan", in Gestalt von SS-Kindern heranreifen sollte.

Gedenkstätte Sonnenstein in Pirna
Die nationalsozialistischen Euthanasie-Anstalt "Sonnenstein" in Pirna ist heute eine GedenkstätteBild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Man könnte meinen, der fiktionale, erzählerische Anteil in Drndićs Roman verschwinde hinter dem rein dokumentarischen. Doch das Buch geht weiter, über den Anspruch einer dokumentarischen Fiktion hinaus. Der 69-jährigen Schriftstellerin gelingt eine Form, in der Erfundenes, Lyrisches, Dokumentarisches, Archivmaterial und die kommentierenden Stimmen anderer großer Autoren wie Romain Rolland, Thomas Bernhard oder Ian Buruma zu etwas Neuem verschmelzen. Drndić selber sagt, sie breite "eine Menge Leben aus, einen Haufen Vergangenheit, zu einer unbegreiflichen, unverständlichen Reihe", einem "verbrauchten Lied". Die beiden Übersetzerinnen Brigitte Döbert und Blanka Stipetić haben die wechselnden Tonlagen sehr gut ins Deutsche gerettet. Das Ergebnis ist ein großes Werk voller Namen und Geschichte, Trauer und Wut.

Buchcover Sonnenschein Dasa Drndic -
Buchcover

Daša Drndić: "Sonnenschein" (Sonnenschein), aus dem Kroatischen übersetzt von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić, Hoffmann und Campe 2015. Der Roman ist einer von sechs Titeln auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises. Er wurde bereits mit renommierten Preisen ausgezeichnet und in zwölf Sprachen übersetzt.