1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Interview Gunter Mulack

7. Oktober 2011

Ex-Botschafter Gunter Mulack vergleicht den westlichen Versuch des Staatsaufbaus in Afghanistan mit einem Sandkastenspiel. Die Intervention habe die Geschichte und Tradition des Landes ignoriert.

https://p.dw.com/p/12lfw
Ex-Botschafter Gunter Mulack ist heute Direktor des Deutschen Orient-Instituts und war 2009 Wahlbeobachter in Afghanistan (Foto: dpa)
Gunter MulackBild: dpa

DW-WORLD.DE: Herr Mulack, warum genießt die afghanische Regierung zehn Jahre nach Beginn der westlichen Intervention so wenig Vertrauen bei den Menschen?

Gunter Mulack: Die afghanische Regierung ist offensichtlich nicht in der Lage, gute Regierungsarbeit zu leisten. Sie arbeitet schlecht und sie kämpft nicht gegen die Korruption. Die Korruption und die Jagd nach dem schnellen Geld sind offensichtlich für viele, die in der Regierung arbeiten, viel wichtiger, als die Anliegen des Volkes gewissenhaft zu erfüllen. Vielleicht liegt es auch daran, dass viele dieser Menschen nicht an die Zukunft Afghanistans glauben und deswegen lieber das schnelle Geld machen wollen.

War die Intervention vor zehn Jahren richtig?

Die war sicherlich richtig. Man hätte sie vielleicht vermeiden können, wenn die Amerikaner einen längeren Atem gehabt hätten in den Gesprächen mit den Taliban über die Auslieferung von Osama Bin Laden. Diesen Prozess des Verhandelns kann man nicht einfach so in ein paar Wochen abschließen. Aber ich hatte immer auch den Eindruck, dass die Amerikaner intervenieren wollten. Es ging dort auch um Rache. Es ging darum, dass die Großmacht USA einfach zeigen musste: "Wir lassen uns nicht alles gefallen, man kann nicht straflos gegen uns vorgehen." Aber man hätte dann anschießend schneller umdenken sollen. Man hätte versuchen müssen, die Afghanen selber schneller in den Sattel zu heben.

Welche Fehler hat das westliche Bündnis aus Ihrer Sicht gemacht?

Wir haben damals zu sehr auf die Nordallianz gesetzt. Die hatte ja damals nicht gewonnen gegen die Taliban. Im Gegenteil, die Nordallianz hatte ja schon fast verloren. Sie hat es nur durch die Unterstützung der Amerikaner geschafft, sich zum 'Sieger' im afghanischen Bürgerkrieg zu erklären. Wir haben aber damals die Paschtunen und die Kriegsverlierer nicht genug eingebunden. Es war damals einfach undenkbar, die Taliban zum Gesprächsprozess zu laden, zur ersten und zur zweiten Bonner Konferenz. Das haben die Amerikaner und die Nordallianz einfach abgeblockt.

Aus heutiger Sicht war das ein Fehler, denn aus heutiger Sicht hätten wir die Taliban viel früher beteiligen müssen. Wir haben wertvolle Jahre verloren in dem Prozess einer Verhandlungslösung. Jetzt ist es natürlich sehr spät, und jetzt sehen die Taliban auch, dass die Amerikaner irgendwann wieder weg sind. Da schrumpft der Wille, sich zusammenzusetzen.

Wenn Sie sagen, Gespräche mit den Taliban sind richtig und wichtig und hätten viel früher statt finden müssen: wie redet man mit so einer heterogenen Gruppe? Wir benutzen den Begriff ja immer sehr selbstverständlich, aber hinter den Taliban verbergen sich verschiedene Gruppen.

Es gibt die sogenannten moderaten Taliban. Damit meine ich die Taliban, die heute schon in Kabul leben und zugänglich sind wie Mullah Zaeef, der ja auch schon hier auf einer Konferenz mit dem Auswärtigen Amt in Berlin anwesend war, was ich sehr gut fand. Mit denen müssen wir reden. Aber das sind natürlich nicht 'die Taliban'. An Mullah Omar, die Quetta-Schura oder das Haqqani-Netzwerk heranzukommen dürfte sehr, sehr schwer werden.

Ein Sprecher der Taliban, umringt von Kämpfern, gibt in der südafghanischen Provinz Helmand ein Interview. (Foto: dpa)
Wo sind die Gesprächspartner auf Seiten der Aufständischen?Bild: picture alliance/dpa

Aber noch mal: Wir haben viele Jahre verschenkt, in denen nicht geredet worden ist, obwohl immer mehr Leute gesagt haben: 'Tut was! Ohne einen innerafghanischen Versöhnungsprozess wird es keinen Frieden geben!' Aber das ist letztlich nie passiert. Die Amerikaner haben darauf gesetzt, noch mehr Soldaten an die Front zu schicken und haben immer noch gemeint, sie könnten dieses Phänomen der Taliban durch militärische Gewalt in den Griff kriegen. Sie haben es nicht geschafft, und heute heißt es natürlich auch bei ihnen, dass uns nur eine politische Lösung hilft. Doch es ist sehr spät. Es ist noch nicht zu spät, aber es ist sehr spät.

Mit 2014 steht das Abzugsdatum für die Kampftruppen im Raum. Halten Sie das für einen strategischen Fehler, dass man ein Abzugsdatum so klar benennt, wenn man Verhandlungen anstrebt und auch braucht?

Natürlich. Das ist ein Fehler. Aber wir müssen auch sehen, dass die Mehrheit der Bevölkerungen in den Nationen, die die Truppen stellen, gegen den Einsatz in Afghanistan ist. In Deutschland, in England, wo immer Sie fragen: 60 bis 70 Prozent der Menschen sind dagegen. Also müssen die Regierungen ihren Wählern die Perspektive geben, dass dieser Einsatz zu Ende geht. Diese innenpolitischen Argumente muss man auch mit in Betracht ziehen, was die Taliban natürlich als Zeichen der Schwäche auslegen können.

Man wird jetzt versuchen, so denke ich, sich aus der Intervention zu retten. Wenn am 5. Dezember in Bonn die Konferenz zum zehnjährigen Jubiläum des Petersberger Prozesses stattfindet, dann macht man die Tür zum Ausgang auf und sagt: "Ihr Afghanen, Ihr seid von uns ganz hervorragend versorgt und ausgebildet worden, Ihr könnt das jetzt selbst machen, wir verlassen das Land und zwar erfolgreich".

Aber ich hoffe auch wirklich, dass wir es schaffen, die Taliban noch mehr einzubinden. Ich hoffe, dass es uns gelingt, die ideologisch nicht verbrämten Stammeskrieger, die nur zu den Waffen greifen, weil sie die Amerikaner als Besatzer empfinden und sich rächen wollen, am Aufbau Afghanistans zu beteiligen.

Der Darul-Aman Palast in Kabul durch ein zerbrochenes Fenster fotografiert (Foto: AP)
Symbolisches Bild? Der zerstörte Darul-Aman-Palast in Kabul ...Bild: AP

Worum geht es dem Westen heute noch in Afghanistan?

Keine Seite kann da mit einem Gesichtsverlust rausgehen. Wir haben auch ein Gesicht zu verlieren, und wir müssen hoffen, dass es uns gelingt, das zu vermeiden. Denn wir können nicht einfach zugeben, so wie es die Russen damals gemacht haben, dass man auf diesem Terrain mit militärischer Gewalt keinen Sieg erringen kann. Wir müssen uns weiter bemühen, daran zu arbeiten.

Ich bin auch nicht so hoffnungslos. Ich finde, dass die junge Generation, die jetzt heranwächst und eine gute Ausbildung an indischen, deutschen oder englischen Universitäten bekommt, Anlass zur Hoffnung gibt. Diese junge, gebildete Generation ist vielleicht mal in der Lage, das Land anders zu gestalten und zu modernisieren.

Aber wir müssen uns auch damit abfinden, dass ein Afghanistan entsteht, in dem die Werte eines eher orthodoxen Islam eine große Rolle spielen. Wir können nicht erwarten, dass in Afghanistan eine Westminster-Demokratie entsteht. Wir können auch nicht erwarten, dass dort ein Menschenrechtssystem entsteht, wie wir das in Mitteleuropa haben.

Dennoch müssen wir den jungen Afghanen das Rückgrat stärken, und wir müssen ihnen sagen, dass sie sich selber etwas zutrauen müssen, damit im Parlament nicht immer nur die alten Kämpfer und Stammesfürsten sitzen. Die neu entstehende Zivilgesellschaft, die bürgerliche Mitte, muss eine stärkere Stimme bekommen. Aber das ist ein Prozess, der sicherlich noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, braucht. Man kann nur hoffen, dass wir nicht zu früh abbrechen.

Was ist für Sie die zentrale Lehre aus dieser Intervention?

Die zentrale Lehre ist, dass wir mit militärischen Mitteln heute keinen Sieg mehr ereichen. Wir müssen, wenn wir die Herzen und Köpfe gewinnen wollen, viel stärker auf die entwicklungspolitische und bildungspolitische Zusammenarbeit setzen. Es geht um die Herausbildung künftiger Führungseliten. Da hätte man in Afghanistan viel mehr investieren müssen, um Vertrauen zu gewinnen.

Deutsche ISAF-Soldaten auf Patrouille in Nordafghanistan (Foto: AP)
"Wir haben auch ein Gesicht zu verlieren."Bild: AP

Man hätte den Afghanen auch ein größeres Selbstbestimmungsrecht einräumen müssen, damit sie selber sagen können, was in ihren Augen das Beste für ihre Zukunft ist. Stattdessen hatten wir oft eine vorgefasste Meinung und haben bestimmt, was in Afghanistan zu passieren hat.

Es war wie ein Sandkasten, in dem zu viele spielten - und meinten, dass wir da jetzt mal einen ganz modernen Staat bauen. Dass das schiefgehen musste, müsste jedem klar gewesen sein, der sich über die Geschichte Afghanistans informiert hat, der das Stammeswesen dort kennt und der ein bisschen Verständnis für die kulturellen und historischen Komponenten hat. Aber zu viele haben nicht daran gedacht.

Wir selber, hier in Deutschland, sind auch sehr eurozentrisch in unserem Herangehen. Wir nehmen nicht genügend Rücksicht auf vorhandene Tradition und wir sehen nicht, wie schwer es wirklich ist, in einem Land wie Afghanistan etwas zu verändern, und dass man da einen viel längeren Atem haben muss, selbst wenn unsere Soldaten weggehen.

Gunter Mulack ist heute Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Berlin. Davor war er Diplomat. Er vertrat die Bundesrepublik unter anderem als Botschafter in Bahrain, Kuwait, Syrien und Pakistan.

Das Interview führte Sandra Petersmann
Redaktion: Martin Muno