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Das Erbe des „Verrückten der Dünen“

17. April 2009

Villa Gesell ist eines der beliebtesten Seebäder an der argentinischen Atlantik-Küste. Der Ort wurde in den 1930er Jahren von dem deutschstämmigen Argentinier Carlos Gesell gegründet.

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Villa Gesell in ArgentinienBild: Victoria Eglau

Der Strand von Villa Gesell an einem Nachmittag im argentinischen Spätsommer. Es ist noch immer warm. Eis- und Getränkeverkäufer bieten rufend ihre Ware an und schaffen es kaum, das Meeresrauschen zu uebertönen. Der helle Sand ist bunt betupft von Sonnenschirmen, Badetüchern und Strandliegen. Erwachsene räkeln sich in der Sonne, Kinder spielen in den Wellen und Spaziergänger laufen barfuss durch den nassen Sand. Hinter dem Strand erheben sich Hochhäuser. Zu Fuß ist man in ein paar Minuten an der Hauptstrasse Avenida Tres, der dritten Avenida. Dort flanieren Urlauber und Einheimische an Eisdielen, Restaurants und Geschäften vorbei. Es gibt auch mehrere Spielhallen, die gut besucht sind. Die 20-Tausend-Einwohner-Stadt Villa Gesell wird jeden Sommer von rund 750-tausend Touristen besucht, die dort eine Mischung aus Erholung und Vergnügen suchen.


Der Traum von einer Plantage


Nicht einmal zwei Kilometer vom quirligen Zentrum entfernt steht – umgeben von einem üppigen Garten – das Haus von Sonja Thomys. Die 81jährige zierliche Frau mit dem weißen Pagenkopf sitzt am Wohnzimmertisch und blättert in einem Fotoalbum der Familie Gesell. Carlos Gesell, der 1977 verstorbene Gründer des Badeorts, war ihr Bruder. Sonja Thomys zeigt auf ein Foto aus der Zeit, als Villa Gesell noch keinen Namen hatte und ein zehn Kilometer langer, unbesiedelter Küstenstreifen war – eine Dünenlandschaft ohne Baum und Strauch. Carlos Gesell hatte das Gebiet im Jahr 1931 günstig erstanden. Die Idee des deutschstämmigen Argentiniers war, dort Bäume zu pflanzen, um Holz für das Familienunternehmen Casa Gesell in Buenos Aires herzustellen. Casa Gesell verkaufte alles für das Kind, so auch Möbel und Spielzeug.

Badeort Villa Gesell in Argentinien - Sonja Thomys, Schwester von Carlos Gesell
Sonja Thomys, die Schwester von Carlos Gesell, zeigt Familienfotos aus der Gründerzeit von Villa GesellBild: Victoria Eglau


Ein sturköpfiger Deutscher


"Für ihn war das eine Herausforderung“, sagt Sonja Thomys. "Und es war gar nicht so einfach. Carlos erzählte, wie er eine schöne kleine Düne sah, und sich vorstellte, wie darauf ein großer Zedernbaum wachsen würde. Und dann kam er über die Wochenenden, und brachte einmal einen Zedernbaum mit. Und pflanzte ihn da mit großen Hoffnungen auf die Düne. Aber als er wiederkam, war sie trocken. Weil eben der Boden noch reiner Sand war, wuchs eben das wenigste an.“


Weil viele das Unterfangen von Carlos Gesell für sinnlos hielten, wurde er in der Gegend bald nur noch der "Verrückte der Dünen“ genannt. Auch in seiner eigenen Familie stieß der Plan, die sandige Küstenlandschaft zu bepflanzen, auf Widerstand. Aber Carlos – offenbar mit einer Mischung aus Sturköpfigkeit und unermüdlicher Erfindergabe ausgestattet - ließ sich nicht entmutigen. Sonja Thomys: "Er er hat immer wieder neu versucht. Er hat alle Pflanzen versucht, derer er überhaupt nur habhaft werden konnte. Bis dann diese Akazien kamen, die wirklich schnell wuchsen und sich auch hielten.“ Die Pionierpflanze in der Gegend aber seien die Tamarisken gewesen, erzählt Sonja Thomys. "Die machten sich nichts daraus, wenn sie zugeweht wurden – im Gegenteil, sie gediehen besser.“


Die Anfänge in den 30er Jahren


Am Ende der Hauptstrasse von Villa Gesell beginnt Pinar del Norte, "der nördliche Kiefernhain“. In dem Wäldchen wachsen neben Kiefern mehr als hundert weitere Baum- und Pflanzenarten – alle von Carlos Gesell angepflanzt. Pinar del Norte ist der historische Kern des Ortes – hier befindet sich das 1937 erbaute erste Wohnhaus von Carlos Gesell, in dem heute ein Museum untergebracht ist, sowie das Chalet, in das die Familie später zog.

Badeort Villa Gesell in Argentinien
Heute ist Villa Gesell der beliebteste Badeort an der argentinischen AtlantikküsteBild: Victoria Eglau

Von dort aus sind es nur wenige Meter bis zum Strand, an dem 1940 das erste Haus für Urlauber entstand: La Golondrina, "Die Schwalbe“. "Carlos Gesell baute es, um es zu vermieten. Emilio Stark, ein Schweizer Unternehmer aus Buenos Aires, war der erste Tourist, der dort Ferien machte“ – rekonstruiert Mariela Siste vom Historischen Museum die Anfänge des Tourismus' in Villa Gesell. "Er verbrachte hier mit seiner Frau fünfzehn wundervolle Tage. Als er nach Buenos Aires zurückkam, erzählte er allen seinen Freunden von diesem Ort, und von da an wurde er von Freund zu Freund weiterempfohlen. So entstand der Werbeslogan, den Villa Gesell viele Jahre lang verwendete: Der Badeort, den Freunde ihren Freunden empfehlen.“


Treffpunkt für Europäer


Anfang der vierziger Jahre hatte Carlos Gesell das Vorhaben der Holzgewinnung aufgegeben. Er war nun entschlossen, einen Badeort zu gründen, der sich vom mondänen Seebad Mar del Plata unterscheiden sollte: ein ruhiges Fleckchen Erde für Naturliebhaber. 1943 eröffnete die deutsche Familie Gussmann das erste Hotel: Hotel Playa. Sonja Thomys erinnert sich: "Zuerst hatten wir viele Deutsche hier. Das Hotel Playa von Gussmanns zog auch andere Europäer an. Es kamen Franzosen, Engländer – auch damals, während des Krieges, kamen sie alle hier zusammen.“


In den fünfziger Jahren begann die kleine Marta Soria Gesell, die Ferien im Chalet ihres Großvaters Carlos zu verbringen. Die schönsten Erinnerungen hat die heute 59jährige Enkelin des Badeort-Gründers an die Sechziger: „Villa Gesell war ganz anders als die anderen argentinischen Seebäder. Alles war freier, nicht so sehr von der Zugehörigkeit zu sozialen Klassen bestimmt, was sonst so typisch fuer Argentinien ist. Es gab sehr viel Kultur, es kamen viele Schriftsteller, viele Musiker. Villa Gesell hatte diese Mischung von Bohème und Kultur, die es in keinem anderen Ort an der Küste gab.“


Kurzer Bauboom


Dass Villa Gesell so „in“ war, hatte ein explosionsartiges Wachstum zur Folge. Mitte der siebziger Jahre wurde dort so viel gebaut wie an keinem anderen Ort in Lateinamerika - ein Boom, der einige Jahre später wegen politischer und wirtschaftlicher Krisen in Argentinien wieder zum Erliegen kam. Doch die Entwicklung zu einem der Zentren des Massentourismus' war nicht mehr aufzuhalten.


Nach den Osterfeiertagen verschwinden die letzten Urlauber aus Villa Gesell. Der Lärm der Spielhallen verstummt. Bis Dezember, wenn die Sommerferien beginnen, gehört der Ort nun den Einheimischen. Am Strand, den Blick von den Hochhäusern abgewandt, ist Villa Gesell wieder das einsame Paradies aus Dünen, Wind und Meer, das Don Carlos hier entdeckte.

Autorin: Victoria Eglau

Redaktion: Mirjam Gehrke