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Das Fenster ist endlich offen

23. Juli 2002

- Kommentar zu den Ermittlungsergebnissen über den Mord an Juden in Jedwabne

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Posen, 21.7.2002, WPROST, poln., Dawid Warszawski,

(Der Publizist Dawid Warszawski schreibt für die Zeitung "Gazeta Wyborcza" und für die jüdische Monatszeitschrift "Midrasz" – MD)

Die Erklärung des Institutes für Nationales Gedenken, die den Mord in Jedwabne betrifft und einen Tag vor dem 61. Jahrestag dieses Verbrechens veröffentlicht wurde, war an diesem Tag eines der Hauptthemen der Abendsendung "Nachrichten" im Polnischen Fernsehen. Auf den auf den nächsten Morgen fallenden 61. Jahrestag des Verbrechens wurde jedoch nicht einmal hingewiesen. Es ist schwierig, einen deutlicheren Beweis dafür zu bringen, dass man der Tatsache - wie dieser Mord zu verstehen ist und wie man daran erinnern kann - viel mehr Bedeutung beimisst, als dem Verbrechen selbst. Die Zukunft hat sich auch diesmal als wichtiger erwiesen als die Vergangenheit.

Die Ermittlungsergebnisse lassen keinen Zweifel daran, dass "die Nachbarn gemordet haben". So lautete auch der Titel eines Artikels in der GAZETA WYBORCZA vom 10.7.2002, der gleichzeitig die Grundthese von Professor Jan Gross bestätigt, der aufgrund seines Buches unter dem Titel "Nachbarn" mehrmals und sehr heftig kritisiert wurde. (...)

Die Erklärung des IPN beinhaltet keine Überraschungen und das ist nicht verwunderlich, weil sowohl die Zeugenaussagen, das Beweismaterial als auch das menschliche Erinnerungsvermögen eindeutig sind. Obwohl es zu dem Verbrechen aufgrund "deutscher Inspiration" kam, so war auch die "Rolle der Polen von entscheidender Bedeutung". "Sie sind nach Jedwabne gekommen, um an dem früher geplanten Verbrechen teilzunehmen, die jüdischen Bewohner dieser Ortschaft zu ermorden". In dieser Erklärung wird mit Recht darauf hingewiesen, dass die Zahl der unmittelbar Beteiligten begrenzt war und zwar auf "Männer, deren Zahl mindestens 40 betrug."

Genauso wichtig für diesen Mord war jedoch "das passive Verhalten der Mehrheit der Bewohner von Jedwabne angesichts dieses Verbrechens". In der Erklärung des IPN werden die Ursachen dieser Passivität nicht bewertet, weil es nach 61 Jahren unmöglich ist, sie wirklich zu ergründen. War das die Zustimmung, die Gleichgültigkeit oder die Angst der anderen Bewohner? Sicher ist, dass dieser Mord ohne diese Passivität eine andere Dimension gehabt hätte.

In den Zeugenaussagen mangelt es sehr an Informationen über andere Nachbarn, die versucht hätten, die Juden zu retten, wie das die großartige Apolonia Wyrzykowska tat. In solch einer Situation ist es schwierig, Heldentaten zu vollbringen. Es mangelt jedoch tragischerweise an Aussagen über Nachbarn, die den Juden zumindest einen sicheren Fluchtweg gezeigt, die Aufmerksamkeit der Verfolger abgelenkt oder den Juden eine Scheibe Brot angeboten hätten.

Während der Jagd, die von ihren Nachbarn verübt wurde, sind die Juden aus Jedwabne allein geblieben. Dies ist aber auch eine dramatische Bestätigung der These, dass, um das Böse triumphieren zu lassen, es ausreicht, dass die aufrichtigen Menschen gar nichts unternehmen.

Diejenigen jedoch, die an jenem Tag als Werkzeug zu dem Triumph des Bösen beigetragen haben, wurden in dieser Erklärung des IPN nicht namentlich erwähnt. Das ist auch gut so, weil eine Gerichtsverhandlung gegen die wenigen noch lebenden Täter nach 61 Jahren zu einer Farce werden könnte. Sie werden nämlich bald vor einem anderen Richter stehen und der Prozess wird ihnen anderswo gemacht. Dort warten auch die wirklichen Zeugen der Geschehnisse auf sie.

Die Erklärung des Institutes für Nationales Gedenken kann mit der Öffnung des Fensters in einem Zimmer verglichen werden, das voll schlechter Luft ist. Sogar die Sprache, die man dort benutzt, ist klar, durchsichtig und einfach. Wie immer, wenn Worte nicht dazu benutzt werden, um etwas zu verfälschen oder unter den Teppich zu kehren. Die Sprache wurde diesmal dazu benutzt, um zu erzählen, wie es wirklich passiert ist.

Es ist auch schwierig, die Mühe - das wissenschaftliche, das juristische und das moralische Bemühen - des Staatsanwaltes Radoslaw Ignatiew und des Professors Leon Kieres zu ermessen und sich davor nicht zu verbeugen. Wie gut ist es, dass Polen mit ihren Stimmen spricht und wie gut ist es, in solch einem Polen zu leben.

In diesem Jahr - anders als im letzten, als nur der Präsident und nicht das Episkopat und die Vertreter der Regierung vor Ort waren und die Besucher ihre Betroffenheit und die Bewohner von Jedwabne ihre schweigende Feindseligkeit zum Ausdruck brachten und als Jedwabne deswegen die Aufmerksamkeit Polens und der ganzen Welt erweckt hatte - war es unter dem Denkmal für die Opfer still und leer. Nur eine Gruppe von Juden aus Warschau, die mit dem Rabbiner Schudrich und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Kadlcik, nach Jedwabne kam, trug Trauerpsalmen vor. Das Totengebet Kaddisch wurde von dem aus Israel angereisten Herrn Levin gesprochen, der einem ähnlichen Massaker wie in Jedwabne in dem benachbarten Dorf Wiznie entkommen war: "Dort in Wiznie war es noch schlimmer, noch viel, viel schlimmer", wiederholte er.

Unter dem Denkmal wurde der Rasen schlampig gemäht und es liegen viele Zigarettenkippen herum. In die Gedenktafel hat jemand mit einem Nagel "Hitler" eingeritzt. Ein Journalist der Polnischen Presseagentur PAP überlegt, ob das wirklich "Hitler" heißt, da die Buchstaben sehr undeutlich sind. (...) "Allgemein gesehen kann man sagen, dass dieses Denkmal überraschend gut das eine Jahr überstand", sagte einer der Betenden. Die hiesige kommunale Behörde teilt mit, dass sie mit der Pflege dieses Denkmals beauftragt wurde.

Für den Ort Jedwabne ist das jedoch ein fremdes Denkmal, das von Fremden für Fremde aufgestellt wurde. Der Bürgermeister, der vor einem Jahr eine Rede vor diesem Denkmal hielt, ist in die USA emigriert.

Wir haben also ein Denkmal, das durch die Aufschrift auf der Tafel die Ermordeten betrauert, aber die Täter werden hier nicht namentlich erwähnt. Vor einem Jahr wurde dies damit begründet, dass "die Ermittlungen des IPN noch andauern". Heute wissen wir jedoch, wie übrigens im letzten Jahr auch, dass diese Tat von den Nachbarn verübt wurde. Soll also diese Aufschrift geändert werden? Für mich wie auch für den zu diesem Thema befragten Professor Jan Gross ist es am wichtigsten, dass diese Aufschrift keine Lügen beinhaltet. Genauso wichtig ist jedoch auch die Tatsache, dass dieses Denkmal trotz der eingeritzten Buchstaben "Hitler" das eine Jahr überstand. Das ist ein moralisches Minimum, das Recht der Ermordeten, um auf diese Weise hier präsent zu sein und zwar auf eine solche Weise, die von den lebenden Nachkommen der Täter erlaubt wird. Der Rest bleibt eine Sache ihres Gewissens. (...).

Die Wahrheit über Jedwabne liegt in der Mitte" bemerkte Bischof Tadeusz Pieronek nach der Veröffentlichung der Erklärung des IPN. In der ersten Minute wollte ich fragen in welcher Mitte? Einen Tag danach, nach einem Gebet vor den Ruinen der fürchterlichen Scheune, weiß ich es schon: Die Wahrheit liegt nämlich in der Mitte eines polnischen Feldes und zwar zwischen der Kirche und dem kleinen Wald. "Damals war das Getreide auch so niedrig und man konnte sich dort nicht verstecken", erinnert sich Herr Levin. Wir haben also unsere Wahrheit über Jedwabne und wir wissen, wo sie liegt. Jetzt ist es jedoch am wichtigsten, was wir damit unternehmen.

Jedwabne sollte dieselbe symbolische Bedeutung zukommen, wie sie den Orten Westerplatte und Przytyk, dem Dezember 1970 (Massaker an den protestierenden Werftarbeitern in Danzig - MD) und dem März 1968 (antijüdische Ausschreitungen in Polen - MD) zukommen. Jedwabne sollte in dem gemeinsamen Bewusstsein der Polen seinen Platz haben. Dieser Ort sollte zu den Angelegenheiten gehören, über die in Polen nachgedacht wird, wenn das Wort "wir" ausgesprochen wird. Er sollte zum Thema im Geschichtsunterricht werden, aber nicht, um sich selbst zu bestrafen. Man darf dabei die Tatsache nicht vergessen, dass, wenn es die Deutschen nicht gegeben hätte, es auch zu keinem Verbrechen in Jedwabne gekommen wäre. (...)

Wir sollten uns an Jedwabne erinnern, um der Versuchung zu widerstehen, uns selbst zu belügen und wie Joanna Tokarska-Bakir (...) schrieb, um "endlich zu verstehen, was andere über uns sagen".

Das ist aber eine ungeheuer schwierige Aufgabe. Dank Radoslaw Ignatiew und Leon Kieres wird sie jedoch zu erfüllen sein, weil Polen in Jedwabne zweigespalten ist: Das erste Polen schweigt über das Verbrechen in Jedwabne oder lügt und kehrt den Opfern den Rücken und versucht, die Buchstaben auf der Gedenktafel zu entfernen. Das zweite Polen ist jedoch das, das mutig und couragiert das Verbrechen zugibt und die Täter beim Namen nennt. Das zweite Polen befreit sich von dieser Tat, indem es dieses Verbrechen nicht leugnet. (Sta)