1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Das Gas und die Angst

Felix Steiner22. April 2015

Vor 100 Jahren setzten deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg erstmals Giftgas als Waffe ein. Der Gaskrieg hinterließ traumatische Erfahrungen bei vielen Soldaten, wie Felix Steiner aus seiner eigenen Familie weiß.

https://p.dw.com/p/1FCcn
Deutschland 100 Jahre Gaskrieg Puppe mit Gasmaske
Die Gasmaske des Großvaters von DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/P. Henriksen

Als wir nach dem Tod meiner Großeltern vor fast 30 Jahren ihre Wohnung auflösten, erlebten wir eine Überraschung: Im Schreibtisch, unten rechts, hatte mein Großvater seine Gasmaske deponiert. Sozusagen griffbereit. Nicht einmal mein Vater hatte das gewusst.

Als Zwanzigjähriger im Gaskrieg

Mein Großvater war Jahrgang 1898 und kämpfte als "Großherzoglich badischer Landsturmmann" knapp zwei Jahre lang im Ersten Weltkrieg. Schon nach wenigen Tagen das erste Mal verwundet. Oberarmdurchschuss. Irgendwann 1918 wurde er dann Opfer eines Gasangriffs. Lag Monate im Lazarett. Und wurde dort nach dem Waffenstillstand "demobilisiert", sprich: aus der Armee entlassen. Am Standort dieses Lazaretts blieb er hängen, fand Arbeit, gründete eine Familie. Es ist mein Heimatort.

Die Maske aus dem Schreibtisch stammt natürlich nicht aus dem Ersten Weltkrieg. Damals waren längst noch nicht alle Soldaten mit etwas derart Modernem ausgerüstet. Diese Maske bekam mein Großvater im Zweiten Weltkrieg, in dem er die längste Zeit als Kolonnenführer des Roten Kreuzes zum zivilen Luftschutz zählte, bevor er kurz vor Kriegsende doch noch einmal eingezogen wurde. Er war als Rotkreuz-Helfer nach den Bombenangriffen auf Karlsruhe und Gaggenau im Einsatz. Immer diese Maske in der Blechdose umgeschnallt. Und er hatte vermutlich immer wieder Angst, dass er sie irgendwann benötigen würde.

Steiner Felix Kommentarbild App
DW-Redakteur Felix Steiner

Gas als Waffe, das war neben Luftkrieg und Panzern das dritte völlig neue Phänomen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Nachdem das Deutsche Reich am 22. April 1915 zur vollkommenen Überraschung seiner Gegner diese Schleuse in der Ypern-Schlacht geöffnet hatte, wurde fortan gleiches mit gleichem vergolten. Von allen kriegführenden Mächten. Dass Gift als Waffe schon in der Haager Landkriegsordnung von 1899 geächtet worden war, das scherte nach diesem Apriltag niemanden mehr.

Keine kriegsentscheidende Bedeutung

Eine kriegsentscheidende Bedeutung hatte der Gaskrieg nicht. Punktuell und für kurze Zeiträume wurden zwar Geländegewinne erzielt. Den großen Durchbruch im Stellungskrieg erreichte jedoch keine Seite. Rund 100.000 Soldaten starben an den Folgen der Gasangriffe, nur ein Prozent der Gefallenen des vierjährigen Krieges. Rund 1,2 Millionen Soldaten wurden unterschiedlich stark verletzt. Manche blieben ihr Leben lang blinde Gas-Invaliden.

Weit bedeutsamer als die operativen Erfolge durch die Gasangriffe waren die psychologischen Folgen für die Soldaten: Das Gas machte Angst, weil es keinen wirklichen Schutz dagegen gab. Es zog in jeden Graben, jeden Unterstand und jeden Bunker, in dem man sich sonst gegen Beschuss in Deckung bringen konnte. Und es machte Angst, weil das Brennen auf der Haut und in den Augen, das Kotzen und das Röcheln, das langsame Ersticken neben dem Tod im Feuer vermutlich eine der grauenvollsten Arten zu sterben ist - gegen die es auf den Schlachtfeldern auch keinerlei Hilfe gab.

Deutschland 100 Jahre Gaskrieg Behälter mit Gasmaske
Die Blechdose mit Inhalt aus dem SchreibtischBild: DW/P. Henriksen

Ich bin mir sicher: Auch mein Großvater hatte diese Angst. Anders kann ich mir die immer griffbereite Gasmaske im Schreibtisch von einem, der sonst keine Kriegsdevotionalien aufbewahrte, nicht erklären. Er hat es zwar nicht mehr erlebt, aber dennoch bin ich mir auch in einem weiteren Punkt sicher: Über die internationale Chemiewaffenkonvention von 1997, die die dauerhafte Ächtung und Vernichtung aller Chemiewaffen bis 2012 festschrieb, hätte er sich sicher sehr gefreut.