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Geschäft mit Obdachlosen

Janosch Delcker4. April 2015

Es klingt paradox: Obdachlosen-Organisationen in New York fordern, dass Notunterkünfte für wohnungslose Familien geschlossen und in Privatwohnungen umgewandelt werden. Von Janosch Delcker, New York.

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Ein Bettler mit einem Pappschild und einem Pappbecher vor sich sitzt auf dem Bürgersteig neben einem Mülleimer auf dem "Fifth Avenue" steht (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Das Treppenhaus, das zu Pedro Acevedos Wohnung führt, riecht nach Urin und Marihuana. Das Gebäude liegt in Longwood, einem Stadtteil der South Bronx. Fast die Hälfte der Menschen hier lebt unter der Armutsgrenze. Der 41-jährige Fernfahrer Acevedo lebt mit seiner Frau und seinen neun- und siebenjährigen Töchtern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Die beiden Mädchen teilen sich ein Stockbett im Schlafzimmer. Er und seine Frau auf schlafen auf Klappbetten im Wohnzimmer.

Genau genommen ist dies gar nicht Acevedos Wohnung. Es ist eine Obdachlosen-Unterkunft, die von der Stadt New York bezahlt wird - eine von rund 3000 sogenannten "Cluster Shelter" (auf deutsch etwa "gebündelte Unterkünfte") Wohnungen. Um diese "Cluster Shelter" tobt eine hitzige Kontroverse.

Drei Parteien sind an diesem Streit beteiligt: Zum einen die Obdachlosen New Yorks und Organisationen, die sich für ihre Interessen einsetzen; zum anderen private Unternehmen, die Millionen damit machen, die Wohnungen zu vermieten; und schließlich die Stadt New York selbst, die exorbitante Mieten für die "Cluster Shelter" bezahlt.

Geldmaschinen für die Vermieter

Vor kurzem veröffentlichte die Ermittlungsbehörde der Stadt New York (Department of Investigations, kurz DOI) einen Bericht, der "ernsthafte Mängel" in Obdachlosenunterkünften der Stadt beschreibt. "Cluster Shelter", so der Bericht, böten die "schlechtesten Sozialdienste für Familien". Generell seinen sie die "am schlechtesten instandgehaltenen, am wenigsten kontrollierten" Obdachlosen-Unterkünfte der Stadt.

Bericht Obdachlosenbehörde New York (Foto: DW/Janosch Delcker)
Bericht des Department of Investigations (DOI) in New YorkBild: DW/Janosch Delcker

Pedro Acevedo erzählt von Problemen mit Bettwanzen; im Schlafzimmer der Mädchen hat ein undichter Heizkörper den Fußboden aufgeweicht. Es gibt Tage, an denen sie keinen Strom oder über Stunden hinweg kein fließendes Wasser haben, sagt Acevedo. Wenn Dinge kaputt gehen, würden sie, wenn überhaupt, nur oberflächlich repariert.

Wenn man in seiner Wohnung steht, fällt es einem schwer sich vorzustellen, dass Apartments wie dieses zu einer Geldmaschine für ihre Vermieter geworden sind. Laut dem DOI-Bericht zahlt die Stadt New York das Zwei- bis Dreifache des ortsüblichen Preises für die Wohnungen: "Die durchschnittliche Monatsmiete in einem "Cluster"-Programm beträgt 2451 Dollar, während die übliche Miete in der selben Gegend zwischen 528 und 1200 Dollar liegt." Immerhin rund 60.000 obdachlose New Yorker sind in den Wohnungslosen-Unterkünften untergebracht.

Explodierende Mieten und steigende Obdachlosenzahlen

Der Ursprung der "Cluster Shelter" lässt sich in die frühen 2000er-Jahre zurückverfolgen, zu einem Programm namens "Scatter-site housing". Rund um die Jahrtausendwende stand die Obdachlosenbehörde der Stadt New York (Department of Homeless Services, kurz DHS) vor dem Problem, dass die Zahl der obdachlosen Familien in der Stadt immer weiter stieg. Obwohl die Behörde neue konventionelle Obdachlosenunterkünfte einrichtete, gab es immer noch mehr obdachlose Menschen als Betten. Um Alternativen bemüht, nahm die Stadt Kontakt mit privaten Vermietern auf.

Eine Studie des "Instituts für Kinder, Armut und Obdachlosigkeit" (ICPH), die Forschungsabteilung der Obdachlosenorganisation "Homes for the Homeless", beschreibt, wie den meisten Vermietern monatliche Raten gezahlt wurden, die weit über den üblichen Monatsmieten lagen. Es war ein Anreiz für die Vermieter, sich auf das Geschäft einzulassen. Laut der ICPH Studie begann das Programm klein, mit nur 50 Wohnungen im August 2000, und explodierte geradezu. Rund zwei Jahre später lebten 21 Prozent aller obdachlosen Familien in über 2000 Wohnungen.

Von Anfang an gab es Berichte über gefährliche Bedingungen in den Gebäuden oder über Mieter, die aus ihren Wohnungen verdrängt wurden um Platz zu machen für die profitableren "Scatter-sites". 2007 beendete die Stadt New York das Programm schließlich und ersetzte es durch die "Cluster Shelters". Von nun an sollten die Betreiber soziale Dienste für die Bewohner anbieten, ähnlich wie in anderen Obdachlosenunterkünften in der Stadt. Laut dem jüngsten DOS-Report waren diese Dienste jedoch, wenn vorhanden, oft unvollständig und mangelhaft.

Tod eines Vierjährigen

Im April 2014 katapultierte ein furchtbarer Vorfall das Thema "Cluster Shelter" in die Schlagzeilen: Ein vierjähriger Junge, der in einer der Unterkünfte in der Bronx lebte, starb, nachdem er vermutlich mit Rattengift in Berührung gekommen war. Das brachte das Thema zurück auf die Agenda der Politiker. Im Mai 2014 stellte Gilbert Taylor, Bevollmächtigter und Leiter der Obdachlosenbehörde von New York, einen Vier-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit vor, und forderte, die Zuschüsse an die Vermieter zu verringern. Seitdem sind, laut eines Berichts der "New York Daily News", die durchschnittlichen Zahlungen an die Hausbesitzer von 3013 auf 2522 Dollar zurückgegangen.

Als die Ermittlungsbehörde DOI im März 2015 ihren jüngsten Bericht veröffentlichte, wurden die Rufe immer lauter, "Cluster Shelter" generell abzuschaffen. Nachdem der DOI-Bericht veröffentlicht wurde, sagte DHS-Leiter Taylor der "New York Times", dass die Behörde schon zwei der Unterkünfte aus dem Bericht geschlossen habe, und dass Verhandlungen über niedrigere Mieten mit anderen "Cluster Shelter" liefen. Obdachlosenorganisation wie die "Coalition for the Homeless" oder die "Legal Aid Society" dagegen fordern, alle "Cluster Shelter" in private Wohnungen umzuwandeln, in denen die Familien langfristig als offizielle Mieter wohnen können.

Außenansicht der Obdachlosen-Unterkunft in Longwood in der South Bronx (Foto: DW/Janosch Delcker)
Von außen noch ganz nett: die Obdachlosen-Unterkunft, in der Pedro Acevedos mit seiner Familie wohntBild: DW/Janosch Delcker

"Wenn man den Familien nur einen Mietvertrag und Mietbeihilfe gäbe, könnte man die Obdachlosigkeit in der Stadt auf einen Schlag um 3000 Familien reduzieren", sagte Patrick Markee von "Coalition of the Homeless" der News-Webseite "DNAInfo".

Raus aus der Obdachlosenunterkunft

Als Pedro Acevedo und seine Familie ihre Wohnung in New York im Oktober 2013 zum ersten Mal betraten, wussten sie von der Diskussion um die Obdachlosenunterkünfte nichts. Sie waren froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Acevedo erinnert sich, dass sie die ersten zwei Wochen mit ihren beiden kleinen Töchtern in ihrem Umzugswagen übernachteten. Dann beschaffte ein Programm der Stadt New York ihnen die Wohnung.

Pedro Acevedo spricht viel von "dem System", und davon wie Menschen Obdachlosenunterkünfte und -unterstützung ausnutzen. "Wenn man das System manipuliert, kann man hier theoretisch für immer bleiben", sagt er. Nachdem er rund anderthalb Jahre in dem "Cluster Shelter" gewohnt hat, sagt Acevedo, er sei entschlossen, so bald wie möglich dort herauszukommen. Er sei dankbar für die Unterstützung, die er bekommen hat, aber er wolle nicht von Sozialleistungen abhängig sein. Er hat von Orten gehört, wie dem Bundesstaat Nevada, wo er sich für seine Familie eine Drei-Zimmer-Wohnung leisten könnte, oder sogar ein kleines Haus. "Wenn das System uns nicht hilft, einen anständigen Ort für meine Familie zu finden, dann muss ich es eben selbst tun."

Pedro Acevedo sitzt auf dem Stockbett in seiner Obdachlosen-Unterkunft (Foto: DW/Janosch Delcker)
Nicht viel Platz: Pedro Acevedo in einem der beiden Zimmer der Obdachlosen-Unterkunft, die er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern bewohntBild: DW/Janosch Delcker