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Das Glück des Übersetzers

Alexander Andreev16. April 2015

Alexander Andreev hat acht Bücher von Günter Grass ins Bulgarische übersetzt und für seine Arbeit 1995 den Großen Übersetzerpreis seines Heimatlandes erhalten. Er hat einige Gedanken zu Grass in Kurztexten festgehalten.

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Alexander Andreev, Leiter der bulgarischen Redaktion bei der DW und Übersetzer
Bild: DW/H. Mund

Wenn man sich jahrelang mit einem Autor beschäftigt, wird man immer wieder (meist unerwartet) mit kleinen Beigaben belohnt, die mit Literatur nichts oder sehr wenig zu tun haben. Sich bei Günter Grass für diese Beigaben zu bedanken wäre peinlich – und trotzdem sind sie für mich persönlich sehr wertvoll. Als neue Gedanken oder Gefühle, als Informationen, als Kuriosa.

Mit Grass mitspielen

Auch wenn sich das seltsam anhört: für mich liefert die Spieltheorie ein sehr einleuchtendes Erklärungsmuster der Verwandtschaft zwischen Schreiben und Übersetzen. Man stelle sich beide Tätigkeiten vereinfacht als Spiele vor: Der Schriftsteller ist ein Spielerfinder, der bei jedem neuen Werk neue Spielregeln festsetzt, um dann schreibend (und den Regeln folgend) das Spiel zum Ziel zu führen. Der Übersetzer wiederum ist jemand, der ein Spiel nach bereits vom Autor vorgegebenen Regeln spielt. Einmal die Regeln durchschaut, braucht er spielerisches Können, um bis zum letzten Wort mit dem Autor mitzuhalten.

Günter Grass ist ein virtuoser und nie müde werdender Spielerfinder. In nur einem Buch, "Mein Jahrhundert", hat er beinahe hundert unterschiedliche Spiele eingebaut, die den mitspielenden Übersetzer bis an die Grenzen seines Könnens treiben. Mal muss er Pilze suchen (in allen möglichen und unmöglichen Wörterbüchern, versteht sich), dann fast übergangslos – Giftgase, Kriegsschauplätze, Celan-Zitate oder Radioempfängerteile. Auf diesem labyrinthhaften Spielbrett fühlt sich der arme Übersetzer manchmal wie ein einsamer Spielstein, der den Zug zum nächsten Feld gar nicht mehr wagt. Und dabei darf er nie das Ziel aus den Augen verlieren. Denn Grass ist ein Schriftsteller, der in der besten Tradition der Aufklärung nicht nur das Schönschreiben beherrscht, sondern auch Botschaften vermittelt. Auf den ersten Blick mag dies nicht immer zu bemerken sein, doch hinter den kunstvoll verschachtelten "kleinen Geschichten" denkt und schreibt er immer in großen geschichtlichen und politischen Zusammenhängen. Und da mitspielen heißt nicht nur mitwürfeln, sondern auch mitdenken.

Bulgarische Ausgabe von Das Treffen in Telgte von Günter Grass
Bulgarische Ausgabe von "Das Treffen in Telgte" von Günter GrassBild: DW/H. Mund

Urbaner Wortreichtum

Begriffe aus dem urbanen Alltagins Bulgarische zu übersetzen bereitet einem manchmal gewaltig Kopfzerbrechen. Denn im Vergleich zu Westeuropa entwickelte sich die städtische Kultur in Bulgarien um Jahrhunderte später. Dadurch hat die Sprache, was die Vielfalt an unterschiedlichen Gegenständen betrifft, noch einiges nachzuholen. Glas, Trinkbecher, Kaffeetasse, Kelch (um nur einige zu nennen) – für all diese Gefäße kann das Bulgarische nur ein Wort anbieten. Und umgekehrt: das Bulgarische ist viel differenzierter, was z.B. den Verwandtschaftsgrad innerhalb der Großfamilie angeht, denn das ist die relevante Hierarchie in einer patriarchalischen Gesellschaft. Meine Grass-Übersetzungen habe ich mehrmals korrigieren müssen, um einem Onkel oder einer Schwägerin den richtigen (und aus dem Kontext herausfiltrierten) Familienrang zu verpassen, bis ich mir dieses Problem richtig erklären konnte.

Vor Jahren bin ich bei Grass über das Wort Streicheleinheiten gestolpert. Damals, noch in Bulgarien, habe ich den ironischen Gebrauch wohl nicht erkannt. Es scheint mir aber nach wie vor ungeheuer, das Streicheln in Einheiten vermessen zu wollen.

"Ideologisch unakzeptabel"

Meinen ersten Grass-Übersetzungsvertragverdanke ich der... sowjetisch-bulgarischen Freundschaft. (Damals als "ewig" gepriesen, hat sie sich nach dem Umbruch in Osteuropa in nichts aufgelöst, meine Grass-Fasziantion allerdings blieb bis heute ungetrübt.) Bis in die 80er Jahre stand Günter Grass ganz oben auf dem bulgarischen Index "ideologisch inakzeptabler Autoren". Heute scheint mir das lächerlich, dumm, ja absurd, denn gerade Grass hat sich immer und vehement für die Rechte der Schwachen und für die Anliegen der Linken eingesetzt. Wie dem auch sei, für uns in Bulgarien war er zu dieser Zeit der große Unbekannte aus Westdeutschland. Ich kannte zwar "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" (das Buch habe ich von der Buchmesse in Sofia, nun ja, geklaut), aber von der Danziger Trilogie wusste ich nur vom Hörensagen.

Bücher in Andreevs Bibliothek
Bücher in Andreevs BibliothekBild: DW/H. Mund

Und genau zu diesem Zeitpunkt hat sich das ziemlich verrostete Instrument der sowjetisch-bulgarischen Freundschaft als nützlich erwiesen: die gut unterrichteten Verlegerkreise in Sofia bekamen aus Glasnost-Moskau den Hinweis, dass man Günter Grass langsam enttabuisieren dürfe. "Die 'Blechtrommel' etwa?" – erwiderte ich hoffnungsvoll die Grass-Übersetzungs-Anfrage aus einem großen Verlagshaus. Denkste! "Na ja, mit der 'Blechtrommel' ist es so eine Sache", bekam ich zu hören, blauäugig wie ich war. "Weißt du, das Buch haben wir zwar nicht gelesen, aber das Bild des heldenhaften sowjetischen Soldaten... das weißt du doch." Ich wusste es nicht, musste also der in Moskau getroffenen Entscheidung folgen und einen aus heutiger Sicht ganz wild zusammengewürfelten Sammelband mit "Katz und Maus", "Örtlich betäubt" und "Das Treffen in Telgte" übersetzen. Kurz darauf wurde in Moskau auch "Die Blechtrommel" "freigegeben", die bulgarische Zensurbehörde jedoch wollte die heiße Kartoffel nicht so schnell anfassen. Dazu eine Anekdote aus dieser Zeit: Wettkampf um den Titel "Der größte Elefant". Tritt der sowjetische Elefant mit einem Schild auf: "Der sowjetische Elefant – der größte der Welt!" Sein bulgarischer Kollege präsentiert sich dann mit dem Schild "Der bulgarische Elefant – der kleine Bruder des sowjetischen Elefanten."

Ein bulgarischer Spion?

Auch in Bulgarien schwankt das nationale Selbstverständnis zwischen Wirklichkeit und Mythos, zwischen heldenhaften und grauenvollen Erinnerungen, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Hochmut. Und damit sind wir auch schon bei einem Lieblingsthema von Günter Grass.

Gerade aus dieser inneren Spannung des "Nationalen" heraus haben mich Grass-Leser oder Feuilleton-Redakteure in Bulgarien mehrfach gefragt: "Herr Grass - hat er denn einen Bezug zu Bulgarien oder zu den Bulgaren?" Denn verständlicherweise ist man auch in Bulgarien bemüht, den großen Schriftsteller und Nobelpreisträger wenn nicht zu vereinnahmen, so doch zumindest mit Bulgarien in Verbindung zu bringen. Eine Geschichte, die Günter Grass immer wieder genüsslich erzählt, wäre vielleicht das "bisschen Zucker, mit dem die Bulgaren die bittre Pille schlucken": die Geschichte vom ersten Treffen zweier künftigen Literaturkoryphäen in Krakau 1957. Nach dieser ersten Begegnung habe nämlich der misstrauische Literaturkritiker MRR empört erklärt: "Dieser Günter Grass – er ist kein deutscher Schriftsteller, er ist ein bulgarischer Agent!"

Deutschland Günter Grass und Alexander Andreev Leiter Bulgarische Redaktion
Günter Grass und Alexander Andreev im Jahr 1999Bild: privat

Grass lesen? Warum?

Der folgende Dialog ist die literarische Reflexion eines Gesprächs, das ich über Jahre hinweg mit mehreren bulgarischen Freunden geführt habe. Charakterisiert, naturgemäß, vom Fehlen des Hintergrunds, aber auch von der südländischen Dialogkultur der Unterbrechungen und Übertreibungen. Dies ist als eine "Anm. eines Übersetzers" zu lesen.

"Warum soll ich Günter Grass lesen?"

"Ja, warum denn wohl? Du bist doch eine Leseratte und er ist Nobelpreisträger für Literatur. Ist das etwa nicht genug?"

"Nein, das ist nur ein guter Grund, aber nicht mehr. Literaturnobelpreisträger gibt es an die 100, ich kann nicht alle lesen."

"Nun, du kannst ja Deutsch lesen und Grass ist der größte zeitgenössische..."

"Ach, komm mir doch nicht mit solchen Klischees! Ich möchte keine formellen Argumente hören, sondern inhaltliche."

"Schon gut, schon gut. Er ist jemand, der die Plastik der Sprache beherrscht, er kann sie kneten und auseinanderziehen, er kann Geschichten erzählen, die den Raum füllen wie eine Michelangelo-Skulptur: aus jedem Blickwinkel findest du was Neues..."

"Das hört sich schon aufregend an. Er war doch Bildhauer, nicht wahr? Aber die reine Erzähltechnik ist immer noch..."

"Nein, warte, gerade über seine Erzähltechnik kann ich stundenlang dozieren. Wie er zum Beispiel die Geschichten ineinander verschachtelt, einfach virtuos! Kennst du noch diese russischen Puppen, die Matrjoschkas? Die Deutschen nennen sie 'Babuschkas'. Genau diese Puppen sind eine Lieblingsmetapher der Grass-Kenner in Bezug auf seine Erzähltechnik."

"Naja, aber wenn man sie auseinandernimmt, die Matrjoschkas, dann bleiben sie hohl. Nur die kleinste, ein winzig kleines Püppchen, ist am Ende kohärent..."

"Das ist es ja! Die Kohärenz der Kerngeschichte! In seinen besten Büchern schafft Grass nämlich eigene Welten, mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Kosmogonien, mit einer, wenn du willst, Schlüsselbotschaft, die in diesem kleinsten Püppchen gespeichert ist. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem systemfremden Leser, der nur mühevoll (und umso stolzer am Ende) sich bis zum Kern durchlesen kann."

"Soll das heißen, auf deinem Grass-Welt-Trip hast du die gespeicherten Botschaften entziffert? Und wie lauten die denn?"

"Jetzt greifst du selber auf die Klischeekiste zurück, ich nehm‘s dir aber nicht übel. Du hast ja seine Bücher nicht gelesen, also wirst du gleich einige Plattitüden als Antwort hören, die ich ansonsten nie öffentlich von mir gegeben hätte. Bei Grass habe ich zum ersten Mal die Schrecken des Krieges am eigenen Leibe gespürt. Bei Grass entdeckte ich mit Schaudern die Schattenseiten der Kinderseele. Grass hat mich überzeugt, dass ein guter Schriftsteller die Politik nicht nur reflektieren, sondern sie auch bewegen kann, dass die Sprache nicht nur eine nominative, sondern auch eine normative Funktion hat. Und von Grass habe ich, nun ja, mehr über Deutschland erfahren als aus all den dicken Geschichtsbüchern, die ich gelesen habe."

"Das war aber eine Lobrede ohnegleichen! Hat er etwa ein Jubiläum oder was?"

DW-Mitarbeiter Alexander Andreev hat nicht nur acht Werke Grass' Werke übersetzt, sondern ihn auch persönlich gekannt und mehrfach an den berühmten Grass-Übersetzertreffen teilgenommen. Die kleinen Texte sind in diesem Zusammenhang entstanden. Einige von ihnen wurden auch in einem Sammelband veröffentlicht:„Der Butt spricht viele Sprachen. Grass-Übersetzer erzählen“, Hrsg. Helmut Frielinghaus, Steidl, Göttingen, 2002