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Das Lachen aus dem Hindukusch

Martin Gerner, qantara.de7. September 2005

"Ein Koffer voller Lachen" verspricht der afghanische Kinderzirkus, der gerade durch Deutschland tourt. Das Programm bildet aber auch afghanische Wirklichkeit ab: mit Sketchen über Malaria, Durchfall und Landminen.

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Zirkus macht groß und starkBild: presse

Vor die Aufführung hat Allah das Lernen gesetzt: Eine Gruppe von Kindern hockt aufmerksam im Schneidersitz auf dem Boden. Eine Deutschlandkarte hängt an der Wand in dem kleinen Raum in Kabul. Neben der Karte steht ein Mann, 24 Jahre alt: Shir Khan. "Die meisten Menschen in Deutschland sind Christen, auch sie haben einen Gott. Es gibt auch Muslime in Deutschland, aber viel weniger als bei uns." Mit dem Finger deutet er auf die Karte, während er spricht. "Was ist die Hauptstadt von Deutschland, Bonn oder Berlin?", fragt eines der Kinder. "Was ist der berühmteste Ort in Deutschland?", will ein anderes wissen.

Deutschland-Unterricht für junge Artisten

Khan ist von Beruf Schauspieler und bringt seinen kleinen Schülern im Kinderzirkus Tricks und Theater bei. Er entfaltet eine große Wandzeitung, die einige der Betreuer vorbereitet haben. Es sind Bilder von Wäldern und Fachwerkhäusern, von Burgen, von Neuschwanstein, Frankfurt mit seiner Skyline und Berlin.


Die Kinder sitzen in diesen Tagen jeden Morgen in Kabul und haben improvisierten Deutschland-Unterricht. Zwölf von ihnen haben das große Los gezogen, sieben Jungen und fünf Mädchen im Alter zwischen 9 und 16 Jahren. Sie gehören zu der Gruppe "Khanda Guday" (in etwa: "Der Koffer voller Lachen"), die zwei Monate lang durch Deutschland und Dänemark tourt.

Oh, du lieber Augustin

Seit Wochen üben sie fleißig deutsches Liedgut: "Oh du lieber Augustin, Augustin ..." kommt es aus den Kehlen der jungen Afghanen. "Vor drei Tagen haben sie eine Kassette mit dem deutschen Original bekommen", sagt Berit Mühlhausen, eine der Gründerinnen des Kinderzirkus. "Wir haben den deutschen Text in persische Lautschrift übersetzt und nach ein wenig Üben konnten sie das Lied."

Der Mobile Mini Circus for Children (MMCC) ist ein Kinderschutz-Projekt, das Kindern in Afghanistan psychosoziale Unterstützung geben will. Die dänischen Gründer dieses Projektes verstehen den Zirkus als mobiles Projekt, das erziehen, unterhalten und zum Mitmachen animieren soll. Das Ziel ist simpel: den Kindern das Lachen zurückgeben. Seit zweieinhalb Jahren existiert der MMCC. Mittlerweile erhalten 80 Kinder eine künstlerische Ausbildung: von Erzählkunst und Puppentheater bis Sport und kreativem Radio-Journalismus.

Die andere Hälfte des Tages gehen die Kleinen zur Schule. "Wir wollen die Kinder motivieren, ihr eigenes Potential zu nutzen, ihnen Perspektiven geben und von der Armut ablenken", sagt Mühlhausen. Über 300.000 Kinder hat der Zirkus mit seinen Aufführungen im vergangenen Jahr zum Lachen gebracht.

Von Landminen, Malaria und Diarrhö

Die Reise des Kinderzirkus durch Deutschland ist ein großes Abenteuer. Die Kinder zeigen Akrobatik und Jonglieren, Einrad fahren, auf Stelzen gehen und Clownerien. Daneben zeigt die Gruppe Ausschnitte aus Programmen, die sie in Afghanistan aufführen. Zum Beispiel "Die summende Mücke": ein Jugendlicher im grünen Ganzkörper-Overall und roten Papierflügeln ist die Malaria-Mücke, gegen die vier weitere Darsteller und das Publikum Schutz suchen. Die meisten Aufführungen in Afghanistan handeln von den großen Übeln, die jungen Menschen am Hindukusch begegnen können, wie Landminen und Diarrhö. Wenn der Zirkus spielt, tritt eine riesige weiße Hand aus Schwamm auf die Bühne. Der Schwamm ist verdreckt, darunter steckt einer der Schauspieler. In kleinen Szenen spielt er, wie man sich wappnen kann: sauberes Wasser holen, die Hände einseifen und ordentlich abtrocknen. Das gleiche macht man mit Obst und anderen Esswaren.

Kriegstraumata überwinden

"Warnung vor Landminen", heißt ein weiteres Stück, das die Kinder in Deutschland auszugsweise spielen. "Wir stellen dabei keine Toten und grausamen Verletzungen nach", verrät Berit Mühlhausen, "sondern schicken einen Affen auf die Bühne, der sich mächtig wehtut". In Wirklichkeit sterben in Afghanistan täglich Kinder durch Minen. Millionen Minen liegen noch in der Erde verborgen. Es wird noch Jahrzehnte dauern, sie alle zu finden, zu bergen und zu vernichten.

Die Vorführungen helfen, Kriegstraumata zu begegnen. "Wenn unsere Ältesten in der Provinz spielen, passiert es schon einmal, dass ein Mullah oder ehemaliger Taliban im Publikum sitzt", erzählt David Mason. "Anfangs mit ernster Miene und verschränkten Armen, aber je länger das Programm dauert, desto mehr lösen sich ihre Züge und am Ende klatschen und lachen sie sogar."