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Faszination Jürgen Gosch

4. Mai 2009

Jürgen Gosch erhielt den Berliner Theaterpreis. Er ist der einzige Regisseur, von dem zwei Stücke zum Berliner Theatertreffen eingeladen sind. Top-Schauspieler wie Ulrich Matthes und Corinna Harfouch schwärmen von ihm.

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Theaterszene "Die Möwe"
"Die Möwe" geht ins Rennen um den Berliner TheaterpreisBild: Matthias Horn

Der Raum ist fast leer, alle Schauspieler sitzen ständig auf der Bühne. Wenn sie gerade nicht spielen, schauen sie ihren Kollegen zu. Das ist typisch für eine Inszenierung von Jürgen Gosch. Er benutzt keine Hilfsmittel, wie sie bei vielen Regisseuren beliebt sind, keine Videos, nicht einmal Bühnenmusik. Jürgen Gosch interessiert das pure Spiel, das Erforschen seelischer Abgründe rein mit den körperlichen Mitteln der Schauspieler.

Männliche Hexen

Jürgen Gosch
Still und verschlossen: Regisseur Jürgen GoschBild: Iko Freese

Immer treibt er sein Ensemble in die Extreme. Manchmal – wie im Düsseldorfer „Macbeth“ – mündet das in krasse Bilder. Alle Rollen wurden von Männern gespielt, meist nackt, die hockenden Hexen ließen eimerweise Schokoladenpudding hinter sich fallen und spritzten mit Mineralwasser. Auch wenn das ganz offen geschah und die Wasserflaschen sichtbar waren, hatte die Szene eine heftige Wirkung. Weil die Schauspieler die Illusion durch ihr unbedingtes Spiel herstellten.

Der Mann ohne Einfälle

Niemals geht es Jürgen Gosch dabei um oberflächliche Effekte. Sondern um den Kern eines Stückes oder einer Szene. Seine Inszenierungen entstehen komplett bei den Proben. Er hat keine feste Deutung vorbereitet, kein Konzept erarbeitet. Gosch sagt von sich selbst, er habe keine Einfälle. Zumindest hoffe er das. Ihm geht es um das Leben, wie es ist. In all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit.

Kampf um den Liebhaber

Immer wieder schafft er dabei Szenen, bei denen einem das Herz stehen bleibt. Zum Beispiel in Tschechows „Möwe“ am Deutschen Theater, eingeladen zum Theatertreffen 2009. Da kämpft Corinna Harfouch als exaltierte Schauspielerin Arkadina mit allen Mitteln um ihren Liebhaber, der sie verlassen will. Sie kreischt, flüstert, droht, lockt, rutscht auf den Knien. Bis sie ihn so weit hat. Man entspannt sich, glaubt, das war der Höhepunkt der Szene. Doch dann erkennt ihr Geliebter, Alexander Khuon als Schrifsteller Trigorin, wie manipulierbar er ist. Die Erbärmlichkeit seiner Existenz wird ihm in diesem Augenblick klar. Und er ist nur noch ein jämmerlicher Haufen Mensch.

Mut zur Nacktheit

Die Möwe Der Abdruck ist honorarpflichtig. Nur für Vorankündigungen/ Programmhinweise ist der Abdruck honorarfrei.
Corinna Harfouch und Alexander Khuon spielen in "Die Möwe"Bild: Matthias Horn

Die Schauspieler trauen sich bei Jürgen Gosch, alles zu geben, ohne jede Absicherung zu spielen, nackt zu sein, im körperlichen wie im seelischen Sinne. Neben Shakespeare und Tschechow inszeniert er häufig Stücke des zeitgenössischen Autors Roland Schimmelpfennig. In dessen poetischen, der Wirklichkeit abgelauschten aber gleichzeitig stilisierten Texten findet Gosch ideales Futter für sein explosives und zugleich zartfühlendes Menschentheater.

Liebe zum Leben

Über seine Krebserkrankung hat Jürgen Gosch nie öffentlich gesprochen. Im Gegensatz zu Christoph Schlingensief, der – frei nach Beuys – seine Wunden zeigt, damit sie geheilt werden. Das ist nicht die Sache des stillen, verschlossenen Gosch. Er nimmt sich selbst nicht so wichtig. Doch in einigen Inszenierungen ist viel Persönliches verborgen. Selten kommt es so klar hervor wie in Roland Schimmelpfennigs „Idomeneus“. Da sagt der Schauspieler Alexander Khuon am Schluss: „Ich hänge am Leben.“ Er wiederholt den Satz mit Tränen in den Augen. Und jeder weiß, dass hier vermittelt durch Autor und Schauspieler Jürgen Gosch spricht. Für seine Arbeit erhielt der Regisseur den Berliner Theaterpreis.

Autor: Stefan Keim

Redaktion: Sabine Oelze