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Das Nicht-Urteil

Heinrich Bergstresser 25. März 2002

Die zum Tode durch Steinigung verurteilte Nigerianerin Safyiatu Hussaini ist in einem weltweit beachteten Prozess freigeprochen worden. Das Problem in Nigeria bleibt bestehen. Ein Kommentar von Heinrich Bergstresser.

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Aus dem Vielvölkerstaat Nigeria, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Land Afrikas, kommt am Montag (25. März 2002) nach einer langen Kette von Negativschlagzeilen endlich auch mal eine gute Nachricht - zumindest vordergründig. Die wegen angeblichen Ehebruchs zum Tod durch Steinigung verurteilte Nigerianerin Safiya Hussaini ist von einem Scharia-Berufungsgericht wegen Verfahrensfehler freigesprochen worden.

Nur sehr selten erzeugt ein Gerichtsverfahren in einem Entwicklungsland internationale Aufmerksamkeit. Dieser Fall jedoch, der seit Monaten die Gemüter in Nigeria erhitzt, hat das Land ins Zentrum der internationalen Diskussion über Recht, Strafe und Trennung von Staat und Religion gerückt. Denn solche oder vergleichbare Fälle könnten auch in anderen Teilen der Welt geschehen, wo verschiedene Religionen und Rechtstraditionen eine Säkularisierung des Staates behindern und damit einen universellen Rechtsgrundsatz verletzen. Dieser Grundsatz besagt, dass vor dem Gesetz alle gleich seien. Wie aber soll das möglich sein, wenn in einem Staat völlig verschiedene Rechts- und Strafrechtsformen bestehen, wie in Nigeria.

Vor drei Jahren träumten die Menschen in Nigeria nach den dunklen Jahren blutiger Militärherrschaft von Demokratie, Freiheit und wirtschaftlichem Aufschwung. Doch statt Aufbruch erlebten sie eine rasante Zunahme blutiger Auseinandersetzungen mit ethnisch-religiösen Untertönen und die Einführung des islamischen Rechts - als bindendes Recht - in mehreren islamisch geprägten Bundesstaaten Nordnigerias. Sie mussten mit ansehen, wie Scharia-Gerichte kleine Straftaten mit Auspeitschungen oder Armamputationen ahndeten, die Straftaten einflussreicher Politiker und Geschäftleute aber unbeachtet blieben.

Spätestens hier mussten sich die Nigerianer der bitteren Erkenntnis stellen, dass ein tiefer politischer und religiöser Riss durch die Gesellschaft geht, der sich fatalerweise entlang des Christentums und des Islams zieht. Dieser Riss bedroht ernsthaft das Demokratisierungsprojekt eines wichtigen afrikanischen Staates. Denn der säkulare Staat als Voraussetzung für Demokratie und Fortschritt besteht nur in den Köpfen aufgeklärter Kreise, die eine gewisse Vorstellung von Modernität und Liberalität haben.

Der Ausgang dieses Verfahrens ist für die Beklagte Safiya Hussaini zwar ein Segen, für den nigerianischen Staat und die Gesellschaft ist der Freispruch wegen Verfahrensmängel aber eine mittlere Katastrophe. Denn er verhindert bis auf weiteres die Beantwortung der Grundsatzfrage, auf welcher Rechtsordnung dieser Staat basiert. Und da die Politik diese Frage nicht beantworten kann und will, kann nur ein Präzedenzfall vor dem obersten Gericht, dem Supreme Court, dieses hochpolitische und bis an den Existenzrand des nigerianischen Staates gehende Thema grundsätzlich entscheiden.

Nigerianische Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen versuchen dies seit Einführung der Scharia, bisher ohne Erfolg. Aber schon ist ein vergleichbarer Fall im benachbarten Bundesstaat Katsina anhängig. Der Erfolg vom Montag (25.3.) ist nur ein Scheinerfolg, der die Frage nach dem säkularen Charakter des Staates wieder unter den Teppich kehrt. Der internationale Druck auf Nigeria und der riesige Auftrieb nigerianischer Medienvertreter, im ansonsten kaum beachteten Sokoto, hat das Urteil sicherlich beeinflusst. Aber bei näherer Betrachtung ist es ein Nicht-Urteil, das leider noch viel Leid und Kummer über Nigeria bringen wird.