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Aufbrüche, Umbrüche, Neupositionierungen

14. Februar 2012

Das junge unabhängige Kino guckt genau hin. Es seziert und kommentiert Herausforderungen und Tendenzen. Das macht es weltweit - und gerade auf der Berlinale.

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"Indignados" von Regisseur Tony Gatlif
Bild: Berlinale

Ein Turnschuh, und noch einer. Und dann eine Badeschlappe. Blau und aus Plastik. Und ein Boot, randvoll mit Wasser. Schließlich die Frau, die sich an den Strand schleppt. Eine junge Frau, eine Afrikanerin, die rennt und rennt, als ginge es um ihr Leben. Die rennt und rennt, weil es um ihr Leben geht. Betty heißt diese illegale Einwanderin, von der der aus Algerien stammende Regisseur Tony Gatlif in seinem Film "Indignados" erzählt. Von einem besseren Leben hat diese Betty geträumt und ist nun, in Europa, eine der vielen Unsichtbaren und Ausgeschlossenen, die neben Bahndämmen und unter Brücken in Pappunterkünften und Zeltdörfern hausen.

Mahnung und Inspiration

Internationale Filmfestspiele Berlin Berlinale 2012
IndignadosBild: Berlinale

"Alle haben einen guten Grund zu fühlen, dass die Welt nicht so weiter gehen kann, wie sie weiter geht. Wir müssen etwas tun, damit die Welt sich verbessert", mahnt der 1917 in Berlin geborene ehemalige Widerstandskämpfer und Diplomat Stéphane Hessel. Seine Streitschrift "Empört euch" ist längst zum Bestseller geworden, sie hat Tony Gatlifs kraftvollen Doku-Spielfilmmix inspiriert und europaweit Millionen von Menschen ermuntert, gegen eine rasant wachsende Ungerechtigkeit, gegen Kriege und die Macht der Finanzmärkte auf die Straße zu gehen. Auch davon erzählt "Indignados".

Drehen unter Lebensgefahr

Was wir brauchen, ist nicht Gewalt, sondern Mut, sagt Stéphane Hessel. In Ägypten, in Tunesien, Libyen und dem Jemen haben die Menschen im letzten Jahr den Mut aufgebracht, sich gegen die autoritären Regimes in ihren Ländern aufzulehnen und die raffgierigen Machthaber schließlich zu stürzen. Das Volk hat sich friedlich erhoben, die Antwort aber war zunächst Gewalt. Unter Lebensgefahr hat der Engländer Sean McAllister ein Massaker gefilmt, bei dem in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa 52 Zivilisten getötet wurden. In seiner Dokumentation "The Reluctant Revolutionary" verdeutlicht er nun, wie sehr dieses Schockerlebnis zur Politisierung seines Protagonisten, eines mit persönlichen Problemen ausgelasteten Fremdenführers und Hoteliers, beigetragen hat.

Neues junges Kino

Berlinale 2012 Filmstill Still The Reluctant Revolutionary
The Reluctant RevolutionaryBild: Berlinale

Die Um- und Aufbrüche in der arabischen Welt haben das Kino beflügelt. Und es sind vor allem junge Filmemacher und Filmemacherinnen, die mit ihren mutigen Arbeiten Einblicke in Realitäten jenseits der bekannten Fernsehbilder geben. So porträtiert die in London lebende Hanan Abdalla vier ägyptische Frauen, die mit Witz und Selbstbewusstsein ihr Leben meistern: die mehrfache junge Mutter, die alleinstehende Ladenbesitzerin, die kämpferische Witwe, die geschiedene alte Frau mit dem Strickzeug im Schoß - Heldinnen des Alltags im Spannungsfeld von Stillstand, Aufbruch und Veränderungen.

Starke Frauen

Das Volk will die Revolution fortsetzen und zu einem guten Ende bringen, davon ist die junge Kairoer Journalistin Heba Afify überzeugt. Denn alle hätten ein großes Interesse an den Belangen ihres Landes. Aber man müsse Geduld haben. Denn noch seien viele Mubarak-Anhänger an der Macht. Und noch sei die Korruption tief im Land verankert. Heba Afify ist die Protagonistin des Dokumentarfilms "Words of Witness" von Mai Iskander. Sie begeistert mit ihrer Unerschrockenheit und ihrem Mut und gibt nicht nur der neuen Meinungsvielfalt eine Stimme, sondern erkämpft sich auch ihren Platz in der ägyptischen Umbruchsgesellschaft.

Wüste als Lebensraum

Berlinale 2012 Filmstill Still Habiter / Construire Living / Building
Habiter / Construire Living / BuildingBild: Berlinale

Viel weiter südlich auf dem geschundenen afrikanischen Kontinent, im Tschad, baut eine französische Firma eine Straße durch die Wüste, durch die trockene Wildnis, in der Nomaden siedeln. Auch die Bewohner der wenigen Dörfer leben von dem, was sie der kargen Landschaft abgewinnen können. So, wie ihre Vorfahren das auch getan haben. Die Französin Clémence Angelin hat einen Freund besucht, der hier arbeitet. Und sie hat alles, was sie gesehen hat, mit ihrer Kamera eingefangen, hat beobachtet und mit Bauarbeitern und Anwohnern gesprochen und das alles zu einem wunderbaren Film verwoben, der von der Wüste als Lebensraum erzählt, von der sich breit machenden Klassengesellschaft und der ausufernden Moderne.

Das neue Leben

Berlinale 2012 Filmstill Still Nuclear Nation
Nuclear NationBild: Berlinale

Glücksgefühle und Trauer gleichermaßen hinterlässt dieser außergewöhnliche Film. Denn noch kennt hier niemand den Preis des modernen Lebens, in dem die Wege kurz sind und die Erreichbarkeit jederzeit möglich ist. Und noch spricht hier niemand über die Bedrohungen, die das andere, das neue Leben mit sich bringt. Während dieser Berlinale kann man sie sich alle ansehen, Vereinzelung, Umweltkatastrophen, menschliche Verirrungen. Gleich drei Filme begeben sich in Japan auf Spurensuche und setzen sich mit dem Leben von Menschen auseinander, das seit dem Tsunami vom 11. März 2011 und dem Fallout des Atomkraftwerks Fukushima stillsteht. Alles hat sich dort geändert, nichts gilt mehr. Und niemand mag mehr an die Vorteile der Atomenergie glauben. Nun, nach der Katastrophe.

Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Pia Gram