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Das Scheitern der Angepassten

11. November 2004

Die Demokraten sind bei den US-Wahlen gescheitert. In der Zukunft kann ihnen nur der Abschied von ihrer Anpassung an republikanische Politik helfen, schreibt Thomas Greven.

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Wahlkämpfe betonen Unterschiede. Und so kann der Eindruck entstehen, mit John Kerry hätte im Kontext eines kulturell extrem polarisierten Amerika ein ganzes Weltbild deutlich verloren, und als müssten die Demokraten nun auf den Feldern der Moral, der Werte, der Religion Abbitte gegenüber einem Volk leisten, das anscheinend so ganz anders "tickt" als die tonangebenden Kräfte in dieser Partei. Schon raten tatsächlich die ersten Strategen dazu, sich wieder stärker an den Werten des amerikanischen "Herzlandes" zu orientierten.

Großer Bonus - kleiner Vorsprung

Aber erstens ist der Eindruck einer umfassenden Niederlage falsch! Und zweitens wäre eine an "traditionellen" Werten orientierte Strategie nicht nur grundfalsch für die Demokraten, sondern eine Tragödie für Amerika und die Welt. George W. Bush hat einen recht klaren, aber keinen überwältigenden Sieg errungen: Bedenkt man, dass Amtsinhaber in Krisenzeiten und insbesondere im Kontext äußerer Bedrohung gewöhnlich einen großen Bonus genießen, ist sein Vorsprung sogar vergleichsweise schmal ausgefallen. Und bei Präsidentschaftswahlen "schwimmt" die Partei des Präsidenten auf dessen Bonus mit (so genannte coattails). Schon bei den Zwischenwahlen 2006 können die Demokraten im Kongress jedoch wieder etwas aufholen, insbesondere weil die parteipolitische Neuorientierung im Süden nun fast ganz abgeschlossen ist.

Demokraten stärker im Kampf der Ideen

Mit dem New Deal in den 1930er-Jahren begann eine jahrzehntelange Dominanz der Demokratischen Partei, die sich als fähiger erwiesen hatte, mit der großen Wirtschaftskrise umzugehen. Doch stellten die Demokraten bis in die 1970er Jahre nicht nur die meisten Präsidenten und jahrzehntelang die Kongressmehrheiten, nein, ihre keynesianische Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatspolitik war auch hegemonial: Sie wurde auch von den Republikanischen Präsidenten Eisenhower und Nixon nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Republikanische Rechte attackierte diese Präsidenten als "Me-Too"-Kandidaten, also solche, die in grundlegenden Fragen keine "Alternative, sondern nur ein Echo" der Demokratischen Politik anboten. Republikaner konnten – auch dank des großen finanziellen Vorteils der Republikaner aufgrund von Spenden aus Wirtschaft und Oberschicht – gelegentlich Präsidentschaftswahlen gewinnen, aber nicht den "Kampf der Ideen".

Tradition, Werte und Rassismus

Spätestens seit den 1960er-Jahren arbeitete die Rechte innerhalb der Republikanischen Partei darauf hin, grundsätzliche Alternativen intellektuell auszuarbeiten und eine soziale Bewegung zu formieren, die der Träger einer mehrheitsfähigen Politik sein könnte. Mit der Christlichen Rechten, die 1976 noch mehrheitlich für den Demokraten Jimmy Carter gestimmt hatte, war diese soziale Bewegung ab 1980 dauerhaft gefunden. Bereits vorher war das strategische Rezept entworfen worden, mit dem die Demokratische Wählerkoalition gespalten werden konnte: Traditionelle Werte, gespickt mit einer Dosis Rassismus. Die Angst der weißen Wähler aus unteren Schichten, dass über die sozialstaatliche und bürgerrechtsfreundliche Politik der Demokraten die Schwarzen wirkliche Integration erfahren würden, war groß genug, dass diese begannen, gegen ihre ökonomischen Interessen die amerikanische Partei der Besserverdienenden zu wählen - die Republikaner. So wurde aus dem Demokratischen Süden Zug um Zug der Republikanische, und die wachsenden Vorstädte waren zunehmend umkämpft. Und dass, obwohl gerade die wirtschaftsliberale Politik der Republikaner die soziale Ungleichheit und Unsicherheit, welche vielfach Auslöser der sich dann kulturell oder gar rassistisch äußernden Ängste war, immer weiter verschärfte.

Religion statt Reichtum

Die Demokraten verloren in den 1980er-Jahren nicht nur ihre strukturelle Mehrheit, sondern vor allem auch ihre Deutungshoheit im Kampf der Ideen. Angebotsorientierte, unternehmerfreundliche Politik sollte nun dafür sorgen, dass es allen besser ginge. Dies gelang sehr eindeutig nicht, sondern der mit dieser Politik und den Globalisierungsprozessen verbundene Strukturwandel hat die Mehrheit der amerikanischen Beschäftigten schlechter gestellt. In ihrer Verunsicherung, seit 9/11 verstärkt durch die äußere Bedrohung (sie wurde von der Regierung überdies geschickt instrumentalisiert) wenden sich gerade Geringverdiener und Menschen mit geringem Bildungsniveau den scheinbaren Sicherheiten traditioneller Werte zu, insbesondere dem Glauben. Solche religiösen Erweckungsbewegungen hat es in den USA immer wieder gegeben, meist im Kontext von umfassendem gesellschaftlichem Wandel.

Kerry und Clinton: "Me-Too"-Kandidaten

Man kann nur spekulieren, ob John Kerry nach 9/11 überhaupt etwas anderes hätte machen können als eine "Me-Too"-Politik: Ich bin auch ein guter Patriot, ein Held sogar. Ich glaube auch an Gott. Ich kann Euch auch vor dem Terrorismus beschützen. Ich glaube auch an den Markt und die Steuersenkungen für alle (außer den ganz Reichen). Ich bin auch Euer Kumpel, etc. Und tatsächlich war er weniger ein "Me-Too"-Kandidat als noch der "New Democrat" Bill Clinton, der vor allem Republikanische Politik umgesetzt hat (Freihandel, Wohlfahrtsstaatsreform) und damit erheblich dazu beigetragen hat, dass sich die Demokratische Partei mit ihrer Kombination aus wirtschaftlich und kulturell liberaler Politik von den Interessen der Bürger entfernt hat.

Kerry hat nur knapp verloren und mehr Tote im Irak und/oder mehr Arbeitslose hätten ihm die Präsidentschaft möglicherweise sogar einbringen können. Aber was hätte er wirklich tun können (oder wollen)? Wie viel von Kerrys "Me-Tooism" war nur Taktik, wie viel Ausdruck Republikanischer Themenhoheit und politischer Hegemonie?

Langfristige Strategie gefragt

Den Demokraten müsste es doch um mehr gehen, als darum, gelegentlich den Präsidenten zu stellen. Wer jetzt dazu rät, die Republikaner auf dem Gebiet traditioneller Werte einzuholen, verkennt die Möglichkeit – und auch Notwendigkeit – einer langfristig angelegten Strategie, das grundsätzliche Kräfteverhältnis im Land wieder zu verschieben. Es gilt also tatsächlich, von den Republikanern zu lernen, aber nicht inhaltlich, sondern strategisch. Die Republikaner haben sich mit gelegentlich gewonnenen Präsidentschaftswahlen eben nicht zufrieden gegeben, sondern eine schlagkräftige Alternative inhaltlich formuliert und gesellschaftlich formiert. Wie genau eine erstarkte säkular-sozialdemokratische Bewegung aussehen könnte, ist angesichts der heterogenen und nur in der Ablehnung Bushs einigen Demokratischen Wählerkoalition heute unklar. Klar ist aber, dass ein solches Projekt ein politisches Angebot für die heute nicht am politischen Prozess beteiligten Schichten einschließen muss. In den USA gibt es 35 Millionen "Working Poor" - Menschen, die trotz Vollzeitarbeit unterhalb der Armutsgrenze liegen, über 45 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung und viele Millionen weitere, die unterversichert sind. Eine Mobilisierung dieser Schichten, die überproportional nicht wählen gehen, könnte auch die Kalkulation von Teilen der evangelikalen Republikanischen "Polyester-Fraktion" verändern, selbst im Süden.

Global New Deal als Ziel

Heute kann ein solches säkular-sozialdemokratisches Projekt nicht mehr an den Grenzen des Landes halt machen. So wie der New Deal im Kontext des Kalten Krieges Vorbildfunktion jedenfalls für die westliche Welt entwickelte, so müsste ein Global New Deal ein Angebot für benachteiligte Regionen weltweit enthalten. Schließlich sind es die extreme soziale Ungleichheit und die damit verbundenen Demütigungen, die den Nährboden für den Terrorismus bilden, der umgekehrt wieder die wahlentscheidenden Unsicherheitsgefühle in den USA produziert, welche heute durch aggressive Außenpolitik, bürgerrechtsfeindliche Innenpolitik und die Hinwendung zu vermeintlichen religiösen Sicherheiten "verarbeitet" werden.

Gefahr der schlechten Kopie

Das Projekt eines Global New Deal kann vermutlich nicht die Wahlen 2006 oder 2008 gewinnen (es sei denn, die Bush-Regierung tut den Demokraten den Gefallen, einen extrem sozialkonservativen Kurs zu fahren, oder das Land in eine ökonomische oder außenpolitische Katastrophe zu steuern), aber es eröffnet eine strategische Perspektive. Geht die Demokratische Partei dagegen den Weg einer Anpassung an die Republikanische Hegemonie weiter, bleibt für viele die Frage: Warum eine Kopie wählen, wenn das Original zur Verfügung steht - beziehungsweise warum überhaupt wählen?

Dr. Thomas Greven ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin. Im September 2004 erschien von ihm das Buch "Die Republikaner. Anatomie einer amerikanischen Partei".