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"Das sprengt jede Vorstellungskraft"

26. August 2010

Sechs Millionen Pakistaner hat die Flut obdachlos gemacht. Hunderttausenden fehle es an fast allem, sagt Thomas Schwarz von CARE Deutschland im DW-WORLD-Interview. Er ist gerade aus dem Katastrophengebiet zurückgekommen.

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Überflutete Straße bei Basheera in der Provinz Punjab (Bild: AP)
Überflutete Straße bei Basheera in der Provinz PunjabBild: AP

DW-WORLD.DE: Herr Schwarz, was war Ihr erster Gedanke, als Sie in Pakistan gelandet sind?

Thomas Schwarz: Mein erster Gedanke war: Ich muss versuchen, mir ein Bild zu machen unterhalb der großen Zahlen, die ja jede menschliche Vorstellungskraft sprengen. Auch nach über zwei Wochen kann ich mir diese Zahl nicht vorstellen. Aber die Gesichter hinter diesen Zahlen kann ich mir vorstellen, weil ich sie gesehen haben.

Flüchtlingslager der pakistanischen Armee (Bild: AP)
Flüchtlingslager der pakistanischen ArmeeBild: AP

Was für Bilder haben sich Ihnen eingebrannt?

Besonders zwei Begegnungen sind mir besonders stark in Erinnerung. Das eine war eine junge Frau im Süden des Punjab. Sie war zum ersten Mal schwanger und im achten Monat. Sie sagte: "Ich weiß nicht, wie ich mein Kind zur Welt bringen soll." Sie musste ihr Dorf verlassen und lebte gemeinsam mit allen Bewohnern umgegeben von Katzen, Hunden, Ziegen und Kühen, die dort urinierten, kotierten. Was mich sehr beeindruckt hat, war, dass sie uns dann noch auf eine andere Frau hinwies, die bereits im neunten Monat war und sagte: "Um sie müsst ihr Euch zuerst kümmern." Eine andere Begebenheit war in Noshera. Da lag ein Junge, etwa vier Jahre alt, in einer kleinen Hütte auf dem feuchten Lehmboden. Er war gerade eingeschlafen und hatte ein bisschen Temperatur und Husten. Das würde man hier mit einer Vitamin-C-Tablette wegblasen. Aber die Mutter war sehr besorgt. Sie hatte Angst, er könnte sterben.

Die Fluten haben Brücken mitgerissen und Straßen zerstört, was den Transport von Hilfsgütern sehr schwierig macht. Wie ist die Lage jetzt?

Aus dem Norden läuft Wasser ab, aber das geht dann in den Süden. Ich war am Samstag noch im Norden und dort sieht man jetzt das gesamte Ausmaß. Ich stand mit einem Lehrer bei ihm zu Hause direkt am Kabul River und er sagte: "Sehen sie, das ist mein Wohnzimmer." Wir standen auf einem Boden, wo nichts mehr war. Das ist der Nordwesten zur Zeit. Im Süden schieben die Wassermassen nach. Im Punjab, in der Kornkammer des Landes, ist die Ernte komplett vernichtet. Pakistan ist eigentlich ein Reisexporteur. Aber jetzt stellt sich die Frage, wie wir genug Lebensmittel ins Land bekommen. CARE hat bereits vor einer Woche von der Gefahr einer Hungerkrise gesprochen. Inzwischen sprechen auch die Vereinten Nationen von einer bevorstehenden Hungerkatastrophe, wenn nicht mehr geschieht.

Und bisher ist ja noch nicht genug geschehen. Warum lief die Hilfe so schleppend an?

Hilfsgüterkartons am Flughafen Berlin-Schönefeld (Bild: AP)
Hilfsgüterkartons am Flughafen Berlin-SchönefeldBild: AP

In den allerersten Tagen war das Ausmaß noch nicht zu erkennen, aber am dritten und vierten Tag hat CARE bereits die Lager leergeräumt, Zelte in Dörfer und Gemeinden gebracht. Aber die Spendenbereitschaft war schleppend am Anfang. Erstens, weil es natürlich eine Schockstarre gibt, das dauert auch, bis man die verarbeitet hat, auch vor dem Fernseher. Und dann auch, weil Pakistan ein so furchtbares Image hat. Pakistan wird immer verbunden mit Taliban, Terrorismus, Korruption und Atomwaffen.

Es gibt Berichte, dass die Taliban mit schnellen Hilfsaktionen bei der Bevölkerung punkten konnten. Haben Sie etwas davon mitbekommen?

Also zunächst einmal gibt es auch Länder, die überall sehr einflussreich sind, die jetzt auch sehr viel Hilfe leisten, weil sie auch punkten wollen - nur um das in Relation zu stellen. Ich hatte nirgends das Gefühl, dass ich bedroht wurde, nicht einmal beobachtet oder beargwöhnt. Ich halte die Diskussion über die Taliban zum gegenwärtigen Zeitpunkt für eine Luxusdebatte. Ich glaube, wir sollten uns jetzt auf die unmittelbare Hilfe konzentrieren. Und die Debatte über die Taliban, über die man ja diskutieren muss, sollten wir dann in einem Jahr noch einmal neu führen, wenn wir es geschafft haben, unserem Wertekodex entsprechend Menschen zu helfen, die vor dem Verhungern stehen.

Das Gespräch führte Miriam Klaussner
Redaktion: Mathias Bölinger